Schulsozialarbeit kann Barrieren abbauen

12. Mai 2021

Bildung gilt als eines der wichtigsten Mittel gegen Armut. Trotzdem haben Kinder aus sozial tieferen Schichten immer noch Nachteile. Lichtblick ist der Paradigmenwechsel hin zur Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Schule und Eltern. Diese teils stark auseinanderklaffenden Welten zusammenzubringen, ist jedoch eine Herausforderung. Hier nimmt die Schulsozialarbeit eine bedeutende Rolle ein. Das zeigt auch eine Abschlussarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Das Homeschooling während des ersten Lockdowns befeuerte hierzulande die Diskussion um die Chancengleichheit der Schülerinnen und Schüler. Expertinnen und Experten warnten davor, dass Kinder und Jugendliche aus tieferen Bildungs- und Einkommensschichten das Nachsehen hätten. Der Schweizerische Wissenschaftsrat hielt jedoch bereits 2018 fest: «Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein Bildungssystem, das durch ein hohes Ausmass an Chancenungleichheit geprägt ist.»

Christof Regli, Sozialpädagoge und Sozialarbeiter

Der Sozialpädagoge und Sozialarbeiter Christof Regli hat seine Bachelorarbeit über die Chancenungleichheit im Bildungssystem geschrieben. Ziel der Arbeit ist es, die Bedeutung der Schulsozialarbeit in der Kooperation zwischen Familien und Schule aufzuzeigen. Dafür widmete sich Regli zum einen der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft in der Schule und den Lebensbedingungen von Familien in prekären Lebenslagen. Zum anderen ging er der Frage nach, wie Bildungsungleichheiten überhaupt entstehen.

Modell zur Erklärung der Chancenungleichheit

Wie kommt Chancenungleichheit im Bildungssystem zustande? Christof Regli hat sich in seiner Arbeit intensiv mit dem Modell der Autoren Leemann et al. auseinandergesetzt. Dieses basiert auf drei theoretischen Erklärungsansätzen: darunter die «Habitus-Kapital-Theorie» des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. «Eine Kernaussage daraus ist, dass sich die soziale Lage eines Individuums in der Gesellschaft über Generationen hinweg reproduziert», so Regli. Wenn Bildung in der Familie einen hohen Stellenwert geniesst, das Elternhaus über soziale Kontakte und ausreichend finanzielle Mittel verfügt, ergeben sich für das Kind automatisch bessere Chancen im Bildungssystem. Ist dieser Habitus bzw. dieses Kapital nicht vorhanden, wirkt sich das hingegen negativ aus.

Das Modell Leemann schliesst zudem die Theorie der rationalen Entscheidungswahl mit ein. Gemäss dieser nehmen Eltern im Bildungsweg ihres Kindes jeweils Kosten-Nutzen-Risiko-Einschätzungen vor. Dies an sogenannten Gelenkstellen wie beispielsweise dem Übertritt von der Primar- in die Oberstufe oder dem Übergang von der Oberstufe ins Gymnasium oder in die Berufslehre. «Die Eltern fragen sich dann zum Beispiel, ob der finanzielle und zeitliche Aufwand im Verhältnis zum Nutzen steht und wie hoch das Risiko ist, dass ein erhofftes Bildungsziel nicht erreicht wird», erklärt Christof Regli. Dabei habe sich gezeigt, dass Familien tieferer Herkunftsschichten stärker zu einem kürzeren und kostengünstigeren Bildungsweg tendierten, während höhere soziale Schichten auf eine höhere Berufsbildung setzten.

Der dritte Erklärungsansatz im Modell Leemann bezieht sich auf die Schule als Organisation. Die Schule ist demnach ein geordnetes System, das darum bemüht ist, seine Funktionalität aufrechtzuerhalten. «Zum Beispiel kann nur eine bestimmte Anzahl Schülerinnen und Schüler ein Gymnasium besuchen, weil die Anzahl Räume und Lehrpersonen ebenfalls beschränkt ist», so Regli. Folglich finde ein Selektionsentscheid statt. Sei dieser aufgrund der Noten nicht eindeutig, müsse er gegenüber den Eltern begründet werden. «Hier zeigt sich, dass besser gebildete Eltern auf das Zeugnis ihrer Kinder mehr Einfluss nehmen und nehmen können. Hingegen überlassen Eltern mit tieferem Bildungsniveau den Selektionsentscheid vermehrt der Lehrperson.»

Begegnung auf Augenhöhe

Im Rahmen seiner Bachelorarbeit hat sich der Sozialpädagoge und Sozialarbeiter auch damit auseinandergesetzt, wie sich die Beziehung zwischen Eltern und Schule gestaltet. Während man früher noch von Elternarbeit gesprochen habe, etabliere sich jetzt der Begriff der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft, sagt Christof Regli. Damit verbunden sei das Bekenntnis, dass die Familie eine sehr wichtige Rolle in der Bildung einnehme und die elterliche Erziehung die Grundlage für die Sozialisation eines Kindes lege. «Die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zielt auf eine Begegnung auf Augenhöhe ab und beinhaltet die Vorstellung, dass die Schule die Macht- und Deutungshoheit in der Bildung mit den Familien teilt.»    

Zentral ist, eine Kultur der Offenheit gegenüber allen Familien zu entwickeln.

Christof Regli, Sozialpädagoge und Sozialarbeiter

Doch wer sind diese Familien? «Es gibt nicht die eine Familie», betont Christof Regli. Für die Schule bestehe die Herausforderung deshalb darin, unterschiedliche Lebenslagen und Bedürfnisse zu erkennen und zu berücksichtigen. «Zentral ist, eine Kultur der Offenheit gegenüber allen Familien zu entwickeln.»

Die Schulsozialarbeit könne in der Kooperation zwischen Eltern und Schule als Scharnierstelle agieren, so Regli. Anknüpfungspunkte und Ressourcen seien in allen Familien zu finden – auch bei jenen in prekären Situationen. Es bedürfe jedoch der Bereitschaft, die Eltern als erste Bildungsexpertinnen und -experten ihrer Kinder zu respektieren. Als weitere Voraussetzung sieht Christof Regli die Milieusensibilität: «Nur so gelingt es, die verschiedenen Bedürfnisse zu verstehen und die vorhandenen Ressourcen zu mobilisieren.» Milieusensibilität zeigt sich für Christof Regli auch im Wissen um die Entstehung von Chancenungleichheiten. «Dieses Wissen kann der Schulsozialarbeit helfen, einen reflektierten Umgang mit bestimmten Prozessen zu finden und Barrieren abzubauen.»

Übersetzungsarbeit leisten

Gabriela Heimgartner, Co-Präsidentin des Vereins Schule und Elternhaus, sieht Vertrauen, Offenheit und Wertschätzung als wichtige Stützen einer guten Erziehungs- und Bildungspartnerschaft. Sie stellt immer wieder fest, dass Schule und Eltern viel Gutes zusammen erreichen. Gerade dort, wo es aber mit der Kooperation nicht so ideal laufe, nehme die Schulsozialarbeit eine zentrale Rolle ein. «Sie vertritt mit ihrer neutralen Haltung beide Seiten, leistet Übersetzungsarbeit zwischen verschiedenen Welten und wirkt so als Brückenbauerin.»

Loyalitätskonflikte vermeiden

Die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Schule und Eltern sei in der Schulsozialarbeit ein zentrales Thema, sagt Martina Good, Lehrgangsleiterin des CAS Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule. «Wenn Schule und Eltern nicht zusammenarbeiten, führt das dazu, dass Kinder und Jugendliche unter Rollen- und Loyalitätskonflikten leiden.» Hierauf könne die Schulsozialarbeit ein Augenmerk richten und Eltern als wichtigste Bezugspersonen von Schülerinnen und Schülern miteinbinden.

Erkenntnisse aus der Diskussion unter den Teilnehmenden des Community-Anlasses Schulsozialarbeit

  1. Unterstützung statt Belastung


    Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen Vertretenden der Schule und Eltern sind Realität. Ziel ist es dennoch, einander im Sinne einer partnerschaftlichen Beziehung Wertschätzung entgegenzubringen für die Bemühungen, die von beiden Seiten erbracht werden, und sich zu entlasten, statt mit Vorwürfen zu belasten.

  2. Bekenntnis zur Bildungspartnerschaft


    Damit eine Kultur der Offenheit entstehen kann, muss der Wille zur Erziehungs- und Bildungspartnerschaft auch von der Schulleitung gelebt werden. Klare Strukturen und Konzepte bringen Vorteile.

  3. Partizipation, aber nicht in jedem Fall


    Anfeindungen und Kritik lassen sich mit einer besseren Einbindung der Elternschaft reduzieren. Eine Mitsprache der Eltern ist jedoch nicht in allen Fällen gewinnbringend. Beispielsweise, wenn es um den Unterrichtsinhalt geht.

  4. Sensibilisierung für Chancengleichheit


    Schulsozialarbeitende können Lehrpersonen für Chancengleichheit sensibilisieren und allfälligen Vorurteilen gegenüber Familien aus tieferen sozialen Schichten entgegenwirken.  Dies ist insbesondere an den Gelenkstellen wie beispielsweise beim Übertritt in die Sekundarschule wichtig.

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Community-Anlass Schulsozialarbeit, der zum Thema «Chancenungleichheit im Bildungssystem – Schulsozialarbeit als Bindeglied in Erziehungs- und Bildungspartnerschaften» stattfand.