Das Besuchsrecht: Ein Abwägen zwischen Kindeswohl und Elterninteressen

9. Juni 2021

Sind getrenntlebende Eltern zerstritten, leiden oft die Kinder. Das Besuchsrecht so zu regeln, dass es für alle Beteiligten passt, ist für die Kesb eine Herausforderung. Es braucht viel Geduld, klare Anweisungen und konkrete Kompromissvorschläge, sind sich Expertinnen und Experten einig.

Anouk ist zwölf Jahre alt und besucht die sechste Klasse. Ihre Eltern sind getrennt, das Sorgerecht teilen sie sich. Das Mädchen lebt bei der Mutter. Der Vater wohnt mit seiner neuen Partnerin und der gemeinsamen Tochter etwa 20 Minuten von Anouk entfernt. Er hat das Recht, jedes zweite Wochenende, einen halben Arbeitstag pro Woche sowie jedes Jahr vier Wochen Ferien mit Anouk zu verbringen. Für den Vater stimmt die Situation seit einiger Zeit nicht mehr. Er ist der Meinung, die Mutter informiere ihn absichtlich nicht über schulische und ausserschulische Aktivitäten der gemeinsamen Tochter. So passiere es immer wieder, dass seine Besuchstage ausfielen, weil das Mädchen Termine habe. Auch müsse er es regelmässig holen und bringen, dabei sei es alt genug, um die Strecke mit dem Zug zu fahren. Für die Mutter kommt dies nicht in Frage: Anouk sei dafür noch zu jung. Sie sagt, der Vater sei lieblos und egoistisch und nehme keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse und Wünsche des Mädchens. Er hingegen bemängelt, dass die Mutter schlecht über ihn spreche und die Tochter instrumentalisiere und manipuliere.

Wenn die Eltern zerstritten sind, ist es für die Mitarbeitenden der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eine grosse Herausforderung, das Besuchsrecht zu regeln. Sie sind mit den Wünschen beider Elternteile konfrontiert und sollten dabei Regelungen finden, die für alle passen – insbesondere für die betroffenen Kinder. Meistens ist dann vom Kindeswohl die Rede, das ins Zentrum der Diskussionen gestellt werden sollte. «Allein mit dem Kindeswohl kommen wir beim strittigen Besuchsrecht aber oft nicht weiter», sagt Andreas Hildebrand, Präsident der Kesb Region Gossau. «Denn beide Elternteile haben das Kindeswohl aus ihrer Sicht ja im Auge – und oft haben beide auch ein bisschen recht.» Für Kesb-Mitarbeitende gebe es zusätzliche Möglichkeiten, um bei schwierigen Klientinnen und Klienten voranzukommen. «Im Team und mit Fachpersonen über die Problematik sprechen, Fallbeispiele anschauen, die eigene Herangehensweise überprüfen und neue Methoden kennenlernen», rät Hildebrand.

Aus seiner langjährigen Erfahrung weiss er, dass Eltern, die das Besuchsrecht mit der Kesb regeln müssen, nicht mehr in der Lage sind, eigene Lösungen zu finden und auch für eine Mediation nicht mehr zugänglich sind. «Diese Eltern brauchen Ideen und Kompromissvorschläge», sagt der Kesb-Präsident. «Wir im Gegenzug benötigen Geduld und Zeit. Ein strittiges Besuchsrecht lässt sich nicht in zwei, drei Sitzungen regeln. Das muss uns von Anfang an bewusst sein.» Gleichzeitig müsse die Kesb, als letztes Glied in der Kette, von den Instrumenten, die ihr zur Verfügung stehen, auch Gebrauch machen. Doch davor würden sich viele Mitarbeitende noch zu sehr scheuen. «Die Eltern, die bei uns landen, wollen Anweisung, Anleitung und Anordnung und nicht stundenlang reden», ist Hildebrand überzeugt.

Auswirkungen eines Besuchsverbots

Carole Herzog ist Psychologin und Behördenmitglied der Kesb Region Gossau. Typisch am Fallbeispiel von Anouk ist für sie vor allem eins: «Das Kind war wenig spürbar. Es ging immer um das Hin und Her der Eltern.» Das sei bezeichnend dafür, dass es oftmals eher um ein Problem auf der Erwachsenenebene gehe als um eines zwischen Kind und Vater respektive Mutter, sagt sie. Deshalb ist es für Kesb-Mitarbeitende wichtig, die Ursache des Konflikts zu kennen und einzuschätzen, auf welcher Eskalationsstufe die Eltern stehen.

Kinder können schlecht mit negativen Aussagen von der Mutter über den Vater oder umgekehrt umgehen und reagieren darauf häufig mit körperlichen Symptomen wie Bauchweh oder mit Verhaltensauffälligkeiten, vor allem bei anstehenden Wochenendbesuchen.

Carole Herzog, Psychologin, Behördenmitglied Kesb Region Gossau

Auf Kindesebene ist es der bekannte Loyalitätskonflikt, in den die Kinder aufgrund der Trennung der Eltern geraten. «Kinder können schlecht mit negativen Aussagen von der Mutter über den Vater oder umgekehrt umgehen und reagieren darauf häufig mit körperlichen Symptomen wie Bauchweh oder mit Verhaltensauffälligkeiten, vor allem bei anstehenden Wochenendbesuchen.» Wird der Kontakt mit dem einen Elternteil reduziert oder gar aufgegeben, kommt es kurzfristig zwar zu einer Beruhigung, langfristig hat es aber Auswirkung auf die Psyche des Kindes. Das ist gemäss der Psychologin unbestritten. Befragungen bei Erwachsenen, die dies in ihrer Kindheit erlebten, hätten ergeben, dass sie rückwirkend sehr wohl unter dieser Entfremdung gelitten haben. «Deshalb ist es wichtig, genau abzuklären, ob der Preis eines Besuchsverbots eines Elternteils langfristig nicht zu hoch ist.»

Konstruktiven Umgang lernen

Wie die eigene Beziehung zum Kind positiv und der Kontakt zum anderen Elternteil im Sinne des Kindes gestaltet werden kann, können Eltern, die sich in Trennung befinden, konkret lernen, und zwar im Kurs «KiB – Kinder im Blick». In Deutschland wird dieser Kurs seit 2006 angeboten, teilweise auf Anordnung des Gerichtes. Eltern lernen dabei ihr Kind und seine Bedürfnisse besser kennen – und erfahren, wie sie darauf reagieren können. Sie bekommen Vorschläge an die Hand, um mit dem anderen Elternteil konstruktiver und zum Wohl des Kindes umzugehen. Sie können Stress abbauen, praktische Tipps erproben und lernen andere Eltern in Trennungssituationen kennen. KiB-Kurse heben sich dabei insofern von Mediationen und Beratungen ab, als es um die praktische Umsetzung und konkrete Einübung von Handlungsalternativen geht.

«Für viele Eltern kann es sehr hilfreich sein zu wissen, dass sie nicht allein mit diesem Problem sind», sagt Rahel Lutz, die bei der Kesb Herisau den Abklärungsdienst leitet. Ihre Behörde ist auf die KiB-Kurse aufmerksam geworden und sucht derzeit nach geeigneten Kooperationspartnerinnen und -partnern, die unabhängig der Behörde KiB-Kurse anbieten können, denn die zur Verfügung stehenden behördeninternen Ressourcen sind begrenzt. «Da wir keine interventionsorientierten Abklärungen machen, kommen wir bei der Begleitung von hochstrittigen Elternkonflikten regelmässig an unsere Grenzen», sagt sie. «Wir wollten das Ganze auch nicht auf die Berufsbeistandspersonen abschieben.» Ein solches Angebot für Eltern ersetze zwar nicht die Beratung und nehme die KESB auch nicht aus ihrer Verantwortung. «Es ist aber als Ergänzung oder als Anschluss an Gespräche oder Mediationen sinnvoll.»

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Community-Anlass Kindes- und Erwachsenenschutz, der zum Thema «Persönlicher Verkehr als Disput zwischen Kindeswohl und Elterninteressen» stattfand.

Berücksichtigung des Kindeswillens
Seit über 30 Jahren existiert die UN-Kinderrechtskonvention. In diesem internationalen Übereinkommen sichern die Vertragsstaaten Kindern und Jugendlichen verschiedene Rechte zu. Diese Rechte haben auch im Zusammenhang mit Regelungen zum persönlichen Verkehr zwischen Eltern und Kind eine wichtige Bedeutung. So sieht die Konvention in Artikel 12 die «Berücksichtigung des Kindeswillens» vor. Ein Kind, das fähig ist, eine eigene Meinung zu bilden, hat demnach das Recht, «diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äussern». Die Meinung des Kindes muss «angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife» berücksichtig werden. Im zweiten Absatz des Artikels ist festgehalten, dass das Kind die Gelegenheit haben sollte, «in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden». In der Schweiz wird die Möglichkeit zur Partizipation des Kindes durch die Kindesanhörung (Art. 314a ZGB für das Kindesschutzverfahren, Art. 298 ZPO für familienrechtliche Verfahren) und die Einsetzung einer Kindesvertretung (Art. 314abis ZGB für das Kindesschutzverfahren, Art. 299 ZPO für familienrechtliche Verfahren) umgesetzt.

Weiterbildung im Bereich Kindes- und Erwachsenenschutz
Eine Tätigkeit im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes ist vielfältig und abwechslungsreich. Die Soziale Arbeit findet jedoch stets im Spannungsfeld zwischen rechtlichen und alltagsnahen Anforderungen der Adressatinnen und Adressaten statt. Das Weiterbildungsangebot der OST im Bereich Kindes- und Erwachsenenschutz unterstützt Fachpersonen in ihrer Kompetenz, die Situation der Betroffenen mit kreativen und unkonventionellen Lösungen zu verbessern.