Viele Menschen arbeiten und funktionieren unter hohem Druck. Früher oder später können sich jedoch Auswirkungen zeigen: Gesundheitliche Probleme, Vernachlässigung von Beziehungen und Privatleben oder auch Sinnfragen. Radikale Selbstfürsorge ist eine wichtige Voraussetzung, um motiviert, stabil, gesund und glücklich zu sein.
Von Prof. Nora Brack
Wissen tun das alle: Es ist wichtig, gut zu sich selbst zu schauen, um körperlich, geistig und emotional «fit» zu sein und so auch die Herausforderungen des Alltags zu stemmen. Doch allein um die Leistungsfähigkeit zu erhalten kann es dabei nicht gehen. Selbstfürsorge bedeutet für mich nicht die so oft beschriebene «Selbstoptimierung», die unterdessen einen schalen Beigeschmack bekommen hat. Selbstfürsorge meint, nicht nur zu wissen, was einem rundum guttut, sondern es auch wirklich zu tun. «Natürlich ist es nicht ganz so einfach, als dass du bloss eine bestimmte Anzahl Schaumbäder zu nehmen brauchst…» steht im Klappentext des persönlichen und auch ein wenig politischen Buchs von Svenja Gräfen mit dem Titel «Radikale Selbstfürsorge», der mich zu diesem Blogbeitrag inspiriert hat.
Gretchen-Fragen beantworten
Selbstfürsorge setzt also voraus, dass der Mensch sich selbst und seine Bedürfnisse gut kennt. Dass er in der Lage ist, seine Fähigkeiten und Ressourcen für sein eigenes Wohl und die Regeneration einzusetzen. So weit, so gut. Doch was ist nun das Radikale an der ganzen Sache? Radix (lat. Wurzel). Es geht also um eine Wurzelbehandlung. Autsch. Hier kommt sich der Mensch nun auf die Schliche, wenn er anhaltend grenzwertigen «mental and work load» schöngeredet hat, wenn er immer wieder «Ja» sagt, aber etwas in ihm «Nein» meint. Wenn der Mensch kleine Anzeichen und Symptome bagatellisiert, bis sich grössere nicht mehr übersehen lassen.
Radikal bedeutet also eine Verpflichtung sich selbst gegenüber, welche an den Wurzeln ansetzt. Gesunde Wurzeln brauchen einen gesunden Boden, brauchen Wasser, Nährstoffe und Licht. Und das täglich. Radikal führt uns in eine Verbindlichkeit, bei der es um die persönliche Verantwortung für die eigene Lebensqualität geht.
Damit kommen wir zu den Gretchen-Fragen der radikalen Selbstfürsorge: Liebe ich, was ich tue – beruflich und privat? Finde ich es sinnvoll? Macht es mich glücklich? Gut, als Leserinnen und Leser dieses Beitrags werden Sie nun sagen: Mal mehr, mal weniger… Bei diesen Fragen geht es um ein grundsätzliches Einverständnis. Ist dieses vorhanden, sind die Wurzeln in gutem Grunde verankert. Und den Sturmwinden im Alltag lässt sich mit Selbstfürsorge standhalten.
Spielräume und Wahlmöglichkeiten in jeder Lebenslage
Fehlt es an ausreichend Liebe, Sinn und Zufriedenheit im täglichen Sein und Tun, ist es Zeit, über die Bücher zu gehen: Was ist mir persönlich wirklich wichtig? Wofür will ich meine (begrenzte) Zeit und Energie einsetzen? Was macht mich zufrieden? Wie will ich leben, damit ich gesund bin und bleibe (oder wieder werde)? Der aufmerksamen Leserschaft ist hier vielleicht das Verb «wollen» aufgefallen. Mit dieser Denkweise führen wir uns aus dem «Ich muss…»-Modus heraus und wagen auszutreten aus oft wiederholten Denkmustern. Mir ist bewusst – und das zeigt sich in Beratung und Coaching immer wieder deutlich – dass kaum jemand alles frei bestimmen kann. Doch bei näherer Betrachtung sind in jeder Lebenslage Spielräume und Wahlmöglichkeiten aufzufinden.
Diese «Behandlung an den Wurzeln» kann manchmal schmerzhaft oder ernüchternd sein. Doch oft bietet sich die Chance, dass der Mensch sich selbst dabei ein grosses Stück näher kommt.
Damit Selbstfürsorge wirksam ist, muss sie zur Gewohnheit werden. Alle Handlungen, die der Selbstfürsorge dienen, müssen also mit Regelmässigkeit vollzogen und wiederholt werden, sodass sie im Hirn zu einem etablierten «Schaltkreis» führen. Dieser funktioniert dann eben auch, wenn man sich in einer Phase mit viel Druck und Stress befindet. Konkret bedeutet das:
- Täglich die kleinen Alltagsrituale für die Psychohygiene pflegen, um innerlich zur Ruhe zu kommen.
- Wöchentlich Abstand schaffen, um wieder Weitblick zu gewinnen.
- Regelmässig Austausch halten, mit sich selbst im Dialog, mit den VIPs des Arbeitskontextes wie auch mit den Liebsten in der privaten Welt. Durch das (Mit)Teilen und Besprechen steigt das Verständnis für sich und andere, so kommen wir zu Lösungen.
Genauso wie wir täglich die Zähne putzen, so selbstverständlich und radikal selbstverpflichtet kann die tägliche Pflege des Geistes, des Nervenkostüms und des körperlichen Wohls zukünftig sein. Wollen Sie heute damit beginnen?
Zur Person
Prof. Nora Brack ist Dozentin an der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Unter anderem unterrichtet sie im neuen CAS Traumapädagogik zum Thema Selbstfürsorge und im CAS Leiten von Teams zum Thema Selbstmanagement. Mit ihrem eigenen Unternehmen BildungsOrt Persönlichkeit bietet sie zudem Schulungen, Beratungen, aber auch Reisen in die Wüste an.