Eine Substanz, die Hoffnung weckt

3. November 2021

Für seine berauschende Wirkung ist Cannabis seit Jahrtausenden bekannt. Die Pflanze hat sich jedoch auch als Arzneimittel einen Namen gemacht. Schon Kaiserin Sissi soll ein THC-haltiges Präparat gegen ihren chronischen Husten bekommen haben. Mittlerweile handelt es sich bei Cannabis um das meist erforschte Phytoarzneimittel. Bei vielen Beschwerden ist seine Wirkung wissenschaftlich belegt. Noch gibt es aber Hürden, die eine Verschreibung erschweren. Mit der bevorstehenden Anpassung des Betäubungsmittelgesetzes soll sich das ändern. Doch welche Chancen bietet Medizinalcannabis und wo liegen die Grenzen?

Von Ursula Ammann

Cannabis gehört gemäss Betäubungsmittelgesetz zu den verbotenen Substanzen. Das gilt nicht nur für den Joint in der Freizeit, sondern auch für Medizinalcannabis-Produkte mit einem THC-Gehalt von über einem Prozent. Zwar dürfen diese zu medizinischen Zwecken verschrieben werden. Jedoch müssen Ärztinnen und Ärzte dazu beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Ausnahmebewilligung einholen. Rund 3000 solcher Ausnahmebewilligungen stellt das BAG pro Jahr aus. Tendenz steigend. Die Zunahme an Anträgen, die seit 2012 zu verzeichnen ist, hat sowohl in Fachgremien als auch in der Politik zum Nachdenken angeregt. Dies mit dem Resultat, dass das Betäubungsmittelgesetz 2022 angepasst wird. Künftig sollen Ärztinnen und Ärzte Medizinalcannabis auf eigene Verantwortung verschreiben dürfen.

«Der erleichterte Zugang zu Medizinalcannabis bedarf zusätzlichen Wissens bei Gesundheitsfachpersonen.»

Prof. Dr. Andrea Kobleder

Diese Entwicklung halten Andrea Kobleder und Antje Koller grundsätzlich für sehr begrüssenswert. Die beiden Professorinnen lehren und forschen an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und haben als deren Vertreterinnen die interprofessionelle Weiterbildung «From plant to patient» (siehe Kasten) gemeinsam mit Vertretenden der Fachgesellschaft SGCM-SSCM mitkonzipiert. «Der erleichterte Zugang zu Medizinalcannabis bedarf zusätzlichen Wissens, das Gesundheitsfachpersonen durch dieses Angebot erlangen können», sagt Andrea Kobleder.

Cannabinoide: körpereigene Stoffe

Es sei wichtig, Cannabis nicht als Allheilmittel zu sehen, das in jedem Fall Wunder bewirke, betont Antje Koller. Auch Versprechungen, wonach die Substanz alle möglichen Krankheiten heile, seien unseriös und rechtswidrig. «Nichtsdestotrotz birgt diese Pflanze ein grosses Potenzial, da sie ein sehr gutes Verhältnis zwischen Wirkung und Nebenwirkung aufweist und somit die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten stark verbessern kann», sagt sie. «Es gibt Betroffene, die mit herkömmlichen Medikamenten keinen Erfolg haben, ihre Symptome aber mit Medizinalcannabis-Produkten sehr gut lindern können.» Hier wecke Cannabis Hoffnung und sei ein Versuch wert.

«Es gibt Betroffene, die mit herkömmlichen Medikamenten keinen Erfolg haben, ihre Symptome aber mit Medizinalcannabis sehr gut lindern können.»

Prof. Dr. Antje Koller

Cannabis setzt sich unter anderem aus verschiedenen Cannabinoiden zusammen. Dies sind natürliche Substanzen, die auch vom menschlichen Körper – als sogenannte Endocannabinoide – produziert werden. Endocannabinoide binden an Rezeptoren, die sich überall im Körper befinden, und agieren als wichtige Botenstoffe für Gehirn und Immunsystem. Kommt das Endocannabinoidsystem aus dem Gleichgewicht, kann man mit pflanzlichen Cannabinoiden gegensteuern. 

Da es sich bei Cannabinoiden um körpereigene Stoffe handle seien die Nebenwirkungen bei richtiger Dosierung gering, sagt Antje Koller. Zudem bestehe keine grosse Abhängigkeitsgefahr.

THC und CBD im Fokus der Medizin und Industrie

Die Aufmerksamkeit der Medizin und der Industrie gilt derzeit vor allem den Cannabinoiden THC und CBD. Tetrahydrocannabinol (THC) hat sich vermehrt gegen chronische Schmerzen, Neuropathien, Kopfschmerzen und Migräne bewährt. Auch Personen mit Multiple Sklerose (MS), Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Cerebralparese und spastischen Störungen können von THC-haltigen Präparaten profitieren. Gut sei die Evidenzlage rund um Indikationen wie Übelkeit, Erbrechen oder Appetitlosigkeit – insbesondere, wenn diese Beschwerden im Rahmen einer Chemotherapie auftreten, sagt Andrea Kobleder. Grundsätzlich besitzt THC entspannende, beruhigende, entzündungshemmende und angstlösende Eigenschaften, die bei falscher Dosierung aber ins Gegenteil umschlagen können. Das Medikament richtig zu dosieren, sei deshalb eine Herausforderung, so Andrea Kobleder.

Cannabidiol (CBD) hat unter anderem eine nachgewiesene antieptileptische Wirkung. Es steht deshalb als Mittel bei frühkindlicher Epilepsie im Fokus der Wissenschaft. Dieses Jahr wurde in der Schweiz ein Cannabidiol-Präparat zugelassen, das als Zusatztherapie gegen Krampfanfälle für Kinder ab zwei Jahren und Erwachsene mit seltenen, schweren Epilepsieformen geeignet ist. Gemäss Studien könnte CBD zudem bei Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Schlafstörungen, Autismus, Entzündungen, Psychosen und Depressionen helfen.

Bei einigen Erkrankungen müsse die Wirkung von Cannabis wissenschaftlich noch besser untersucht werden, sagt Andrea Kobleder. «Generell handelt es sich bei dieser Pflanze aber um das meist erforschte Phytoarzneimittel».

Strenge Verfahren garantieren Qualität

Im Cannabis gibt es neben THC und CBD auch andere Wirkstoffe, zum Beispiel die Terpene. «Sie geben Cannabis den Geruch und Geschmack und kommen je nach Sorte in unterschiedlichen Konzentrationen vor», erklärt Antje Koller. Terpene seien in der Lage, die Wirkungen und Nebenwirkungen von CBD und THC zu beeinflussen. «Da Terpene und Cannabinoide in ihrer Zusammensetzung eine wichtige Rolle spielen, ist auch die Zusammenarbeit mit Pflanzenzüchterinnen und -züchtern sehr zentral.»

In der Schweiz gibt es aktuell nur wenig zugelassene Medikament aus Cannabis. Dabei handelt es sich vor allem um THC-haltige Präparate und nur in wenigen Fällen um solche mit CBD. CBD-haltige Produkte mit einem THC-Gehalt unter einem Prozent gelten in der Regel als Nahrungsergänzungsmittel.

Nur drei Schweizer Apotheken stellen die als Medikament zugelassenen Medizinalcannabis-Präparate her. Dabei müssen sie sich an enge Vorgaben halten. Sowohl der Anbau der Rohstoffe als auch die Herstellung werden kontrolliert. «Dadurch sind Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität gewährleistet», sagt Antje Koller. Für auf dem Schwarzmarkt erhältliche Präparate treffe dies nicht unbedingt zu. Allerdings hätten die qualitativ hochwertigen Produkte auch einen höheren Preis. Dieser stelle ebenfalls eine Hürde bei der Verschreibung dar. «Denn meistens müssen Patientinnen und Patienten die Kosten für eine Therapie mit Medizinalcannabis selbst bezahlen.»

Antje Koller und Andrea Kobleder sind dennoch überzeugt, dass die Schweiz insgesamt auf einem guten Weg ist, um das Potenzial von Cannabis als Arzneimittel zugunsten Betroffener besser zu nutzen. Mit ihrem Engagement in der Weiterbildung «From plant to patient» wollen sie ihren Beitrag dazu leisten.

«From plant to patient»
Die Weiterbildung «From plant to patient» besteht aus zwölf Videolektionen. Die Teilnehmenden können diese individuell online abrufen und auf Handouts zurückgreifen. Zum Zielpublikum gehören primär Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker sowie Fachpersonen aus den Bereichen Pflege, Physiotherapie und Psychologie. Angesprochen sind aber auch Vertretende aus der Industrie. Die Weiterbildung wurde von zahlreichen Fachgesellschaften akkreditiert.

Dieser Beitrag basiert auf dem Webinar «Chancen und Grenzen von Medizinalcannabis» aus der Webinarreihe «Klüger am Abend» der Weiterbildung OST.