Auch ausserhalb der Arbeitswelt sind viele Menschen in hohem Tempo unterwegs. Sie streben in einem Minimum an Zeit das Maximum an positiven Gefühlen an. Nicht selten macht sich statt des erhofften Genusses aber Stress breit. Dagegen hilft, sich mit zwei grundlegenden Mechanismen zu beschäftigen.
«Wir Schweizer sind gut im Erzeugen von Wohlstand. Wenn es jedoch ums Geniessen geht, sind wir ein Entwicklungsland,» stellt der Ökonomieprofessor Mathias Binswanger fest. Damit meint er wohl, dass viele Menschen sich auch in der Freizeit stressen – die im Lockdown zum Genuss gewordene Langsamkeit droht verloren zu gehen. Denn sind wir im Alltagstrott, übertragen wir häufig die schnelle Gangart der Arbeitswelt in die Freizeit. Im Sport Dauerleistung bringen, News und Social Media im Eilzugstempo konsumieren, die neuste Netflix-Serie anschauen, schnell noch was online shoppen – und schon ist er da, der Freizeitstress.
Nachlassende Wirkung bei wiederholter Ausführung
In der Positiven Psychologie wird zwischen Genuss- und Belohnungshandlungen unterschieden. Die positive Wirkung entfaltet sich bei den beiden auf unterschiedlichem Weg. Genusshandlungen werden als Freuden mit spürbar sinnlichen und stark emotionalen Komponenten definiert. Unsere Sinnesorgane werden aktiviert und direkt mit positiven Emotionen verbunden. Sie sind meist kurzlebig und mit wenig oder gar keinem Denken und Deuten verbunden. Grundsätzlich sollten wir so oft wie möglich Genusshandlungen anstreben, da die daraus resultierenden positiven Emotionen unser Gesamtsystem stärken. Damit Vergnügungshandlungen auch gute Gefühle auslösen, gilt es zwei grundlegende Mechanismen zu beachten. Der erste wird in der Wissenschaft Habituation oder Gewohnheitseffekt genannt. Gemeint ist damit, dass jeder Genuss sich bei wiederholter Ausführung abnutzt und die Wirkung nachlässt, ja sogar kontraproduktiv wird. Dies trifft auf alle sinnlichen Erfahrungen zu: Spätestens nach dem dritten Eis ist der Genuss vorbei. Tägliche Restaurant- oder wöchentliche Musicalbesuche nutzen sich ab. Nebst körperlicher oder geistiger Sättigung kommt ein Hirnmechanismus zur Anwendung, der uns Routinen austreiben und zur Weiterentwicklung anregen soll: Nervenzellen springen grundsätzlich stärker auf neue Ereignisse an, bereits Bekanntes wird übergangen. Derselbe Reiz ist nur über eine Genusspause zu erzielen. Man gewöhnt sich schnell an Vergnügungen und kommt nur über Enthaltsamkeit wieder zur selben Erfüllung. Ausser man erhöht die Dosis – das nennt man dann Suchtverhalten. Mässigung heisst also das Stichwort. Tönt altbacken und langweilig, ist aber unerlässlich für guten Genuss.
Aufmerksamkeit auf Erfahrung von Vergnügen lenken
Der zweite Mechanismus, um positive Emotionen auszulösen, ist das Auskosten. Es geht darum, den lustvollen Genuss bewusst zu machen und die Aufmerksamkeit willentlich auf die Erfahrung von Vergnügen zu lenken. Das Tempo des modernen Menschen ist sehr hoch, stets mit der Motivation, Zeit zu gewinnen für weitere Aktivitäten. Das Ergebnis: Wir verlieren genau die Zeit, den Moment auszukosten. Aus diesem Teufelskreis führt häufig nur die Reduktion der Ereignisse je Zeiteinheit hinaus. Nur so ist wiederum eine Konzentration auf das momentane, spontane Erleben möglich. Im Hier und Jetzt mit ungeteilter Aufmerksamkeit den Moment genussvoll zu zelebrieren, ist eine Kunst geworden. Sie lässt einen die kleinen Freuden des Alltags gross erscheinen und führt zu Zufriedenheit mit sich, dem Umfeld und dem Leben. Verzichten wir lieber auf einige Aktivitäten und machen diejenigen richtig, die uns Freude bereiten.
Zur Person
Prof. Sigmar Willi ist Dozent für Persönlichkeitsbildung und Gesprächsführung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Ursprünglich absolvierte er ein Betriebswirtschaftsstudium. In den vergangenen Jahren setzte er sich im Rahmen verschiedener Weiterbildungen intensiv mit Positiver Psychologie und Glücksforschung auseinander. Sein Wissen teilt er unter anderem im zweitägigen Seminar «Was ist Glück und kann man es beeinflussen» an der OST.