«Es steht niemandem zu, Menschen wegen ihres Suchtverhaltens zu verurteilen»

19. November 2021

Als Sozialarbeiter, Dozent und Geschäftsleiter des Forums Suchtmedizin Ostschweiz setzt sich Roger Mäder seit Jahren intensiv mit Sucht und Suchtmedizin auseinander. Im Interview spricht er unter anderem darüber, welche Substanzen derzeit eine Herausforderung darstellen, was ihn an suchtmittelkonsumierenden Menschen fasziniert und warum man mit Wertschätzung weiterkommt als mit Anweisungen

Interview:

Was macht das Thema Suchtarbeit und Sucht für Sie so spannend?

Die Suchtarbeit ist enorm vielseitig. Sie umfasst sowohl Schadensminderung als auch Prävention. Die Klientinnen und Klienten sind je nach Bereich sehr verschieden. Ich hatte es bisher hauptsächlich mit Personen zu tun, die illegale Substanzen konsumieren. Mich faszinieren diese Menschen. Oft verbergen sich hinter der Sucht neben Schicksalsschlägen auch interessante Geschichten. Zudem spüre ich häufig eine gewisse Kreativität und Originalität, mit der sie den widrigen Lebensumständen trotzen. Das bewundere ich an ihnen.

Roger Mäder, Sozialarbeiter, Dozent und Geschäftsleiter des Forums Suchtmedizin Ostschweiz (FOSUMOS)

Aber ist es nicht zermürbend, das Elend zu sehen, das eine Sucht auslösen kann?

Zugegebenermassen gibt es schon herausfordernde Situationen. Zum Beispiel, wenn man jemandem gegenübersitzt, der sich trotz Abzessen an Armen und Beinen weiterhin intravenös Heroin oder Kokain spritzt. Umso bereichernder ist es aber, wenn man dazu beitragen kann, dass sich die Lebensqualität dieser Person durch geeignete Hilfsangebote stabilisiert oder sogar verbessert.

Fehlt es Personen, die süchtig sind, nicht schlicht und einfach an Einsicht und Willenskraft?

Wer Suchtmittel konsumiert, ist nicht gleichgültig und undiszipliniert, sondern ambivalent. Die meisten Betroffenen sehen ein, dass ihr Konsum problematisch ist und ihnen nicht guttut. Auf der anderen Seite ist die Substanz, von der sie abhängig sind, die «scheinbare» Lösung für ihre Probleme. In einer adäquaten Suchthilfe kann diese Ambivalenz zwischen Realität und Wunsch genutzt werden, um eine intrinsische Motivation zu einer möglichen Veränderung zu bewirken. Mir war es immer ein Anliegen, dass die Klientinnen und Klienten selbst ihre Ziele definieren und darin unterstützt werden, für sich eine Verbesserung zu erreichen.

Wie gelingt es, Menschen dazu zu bringen, von ihrer Sucht loszukommen?

Es ist nicht entscheidend, wieviel oder was eine Person konsumiert. Auch geht es nicht darum, sie ganz vom Konsum abzubringen oder Vorgaben zur Menge zu machen. Viel wichtiger ist es, eine wertschätzende und vertrauensvolle Beziehung zu den Klientinnen und Klienten aufzubauen und mit ihnen gemeinsam einen Weg zu finden, um die Situation zu verbessern – egal ob dies nun Abstinenz oder kontrollierter Konsum heisst. Dazu gehört auch, dass man ihr Konsumverhalten nicht bewertet.

Wenn beispielsweise ein 50jähriger Mann in seiner Kindheit und Jugend Gewalt und Missbrauch erleben musste und im Heroinkonsum einen Ausweg aus Ängsten und negativen Gefühlen findet, gilt es das als «seine Überlebensstrategie» zu akzeptieren.

Was heisst das konkret?

Wenn beispielsweise ein 50jähriger Mann in seiner Kindheit und Jugend Gewalt und Missbrauch erleben musste und im Heroinkonsum einen Ausweg aus Ängsten und negativen Gefühlen findet, gilt es das als «seine Überlebensstrategie» zu akzeptieren. Es steht niemandem zu, Menschen wegen ihres Suchtverhaltens zu verurteilen und von ihnen zu verlangen, dass sie abstinent werden. Im genannten Fall würde es viel mehr Sinn machen, dafür zu sorgen, dass die Person unter sauberen und kontrollierten Bedingungen konsumieren kann – sich also zum Beispiel keinem Infektionsrisiko aussetzen muss.

Vor knapp 20 Jahren haben Sie das Forum Suchtmedizin Ostschweiz (FOSUMOS) mitbegründet. Ein Ziel dieses Projekts besteht darin, Grundversorger wie Apotheken oder Hausarztpraxen zu motivieren, sich mit Suchtmedizin auseinanderzusetzen. Inwiefern besteht hier Handlungsbedarf?

Tatsache ist, dass ein grosser Teil der Suchtmedizin in der Grundversorgung stattfindet, obwohl die Suchtmedizin effektiv nur einen sehr kleinen Teil der hausärztlichen Arbeit beinhaltet. Dies führt dazu, dass dieses Themenfeld von Unsicherheiten begleitet wird. So ist es etwa für Hausärztinnen und Hausärzte nicht immer einfach, das Gegenüber auf einen problematischen Konsum anzusprechen. Angenommen eine 45jährige alleinerziehende, berufstätige Mutter von drei pubertierenden Kindern kommt in die Praxis und erzählt, dass sie unter Schlafproblemen leidet und nur noch einschlafen kann, wenn sie abends zwei Gläser Rotwein trinkt: Wie reagiert man da als Hausärztin oder Hausarzt? Tabuisieren ist keine Lösung. Es ist dieser Person aber auch nicht geholfen, wenn sie über die Folgen des Alkoholkonsums belehrt wird und man sie dazu anhält, weniger zu trinken.

Was wäre in einem solchen Fall der richtige Weg?

Die Frau erbringt in ihrem Alltag offensichtlich einen ungeheuren Kraftakt und der Rotwein ist für sie ein Lösungsansatz, wenn auch längerfristig kein zielführender. Sie hat es jedoch verdient, dass wir anerkennen, was sie leistet und dass wir Verständnis für ihre Situation aufbringen. Durch diese wertschätzende Haltung gelingt es viel eher, ihre Bereitschaft zur Veränderung zu fördern oder sie zu motivieren, bei einer Fachstelle Unterstützung zu suchen. FOSUMOS setzt sich für einen sensibleren Umgang mit Menschen mit Suchtproblematik ein und strebt eine bessere interdisziplinäre Vernetzung im Suchtbereich an.

Stichwort Alkohol: Alkoholische Getränke sind überall verfügbar und in unserer Gesellschaft breit akzeptiert. Gemäss Statistik hat aber jeder fünfte Erwachsene einen problematischen Alkoholkonsum. Wann ist es noch Genuss und wo beginnt die Sucht?

Eine Sucht hat verschiedene Merkmale. Eines ist, dass das Suchtmittel den Alltag bestimmt – ob es nun um Tabak, Heroin oder Glücksspiele geht. Von einer Sucht kann man auch dann sprechen, wenn die Betroffenen wegen ihres Konsums ständig ein schlechtes Gewissen haben, aber nicht in der Lage sind, ihr Verhalten zu ändern. Weitere Merkmale sind körperliche Entzugssymtpome und Toleranzentwicklung: Das heisst, es braucht immer mehr von einer Substanz oder von einem Verhalten, damit eine gewünschte Wirkung erzielt werden kann.

Welche Menschen sind besonders suchtgefährdet?

Faktoren wie Armut oder ein Mangel an Bildung können eine Sucht begünstigen. Grundsätzlich kommen Süchte aber in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Betrachtet man die einzelnen Suchtmittel, ist der Konsum je nach Geschlecht, Herkunft und Alter stärker oder schwächer ausgeprägt. So sind es beispielsweise hauptsächlich Männer, die von illegalen Substanzen wie Heroin oder Kokain abhängig sind. Bei den Medikamenten entwickeln dafür eher Frauen einen problematischen Konsum. Von Spielsucht sind beispielsweise wiederum mehr Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Und bei über 60-Jährigen erhöht sich statistisch gesehen der Alkoholkonsum.

In den 90er-Jahren war vor allem Heroin ein grosses Problem. Welche Substanzen sind es heute?

Heute ist vermehrt ein mehrfacher Substanzgebrauch zu beobachten. Es werden also verschiedene Suchtmittel zusammen konsumiert. Tendenziell sind es eher leistungssteigernde Substanzen, die im Vordergrund stehen. Bei Jugendlichen ist teilweise ein vermehrter Mischkonsum von Benzodiazepinen in Kombination mit Alkohol eine neue Herausforderung. Dieses Problem hat sich mit der Coronakrise nochmals akzentuiert. Benzodiazepine sind Medikamente, die angstlösend wirken. Sie machen schnell abhängig und können gefährlich sein. So hat der Konsum von Benzodiazepinen kombiniert mit anderen Substanzen in letzter Zeit auch zu Todesfällen geführt.

Wie steht es heute um Heroin und Kokain?

Der Konsum von Heroin stagniert mehr oder weniger. Bei den Konsumierenden handelt es sich vorwiegend um Menschen, die seit Jahren von dieser Substanz abhängig sind und dank der heutigen guten medizinischen Versorgung mittlerweile auch älter werden. Neuzugänge sind bei Heroin nur wenige zu verzeichnen. Der Kokainkonsum nimmt hingegen weiter zu. Allerdings hat diese Substanz bis jetzt nicht zu einer derartigen Welle an neuen Klientinnen und Klienten geführt, wie anfänglich vermutet wurde. Die Gründe können vielfältig sein: verbesserte Integration, «später» Einstieg in den Konsum oder stabile soziale Verhältnisse sind mögliche Erklärungen dafür.

Sie sind als Dozent an der OST sowie an anderen Schulen tätig. Was möchten Sie den Studierenden vermitteln, wenn es ums Thema Sucht geht?

Ich möchte bei ihnen die Haltung fördern, dass sie eine Person nicht auf ihre Sucht oder auf eine Substanz reduzieren, sondern den Menschen dahinter sehen. Ziel ist, dass sie suchtmittelkonsumierenden Menschen Wertschätzung entgegenbringen und ihnen urteilsfrei begegnen, selbst wenn ihnen diese manchmal als «schwierig» erscheinen. Es geht nicht darum, dass jedes Verhalten gutgeheissen wird, aber eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Menschen ist unabdingbar. Ob in der Sozialen Arbeit oder im medizinischen Kontext: Es ist unsere Aufgabe, Personen mit Suchtmittelproblematik angemessen und entsprechend deren Bedürfnissen zu unterstützen.

Zur Person

Roger Mäder ist Geschäftsleiter beim Forum Suchtmedizin Ostschweiz sowie Koordinator bei Praxis Suchtmedizin Schweiz. Nebenbei ist er als Dozent an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und an anderen Schulen tätig. Er blickt auf eine langjährige Erfahrung in der Suchthilfe zurück. Sein beruflicher Werdegang begann mit einer Lehre zum Schreiner. Nach einem längeren Auslandaufenthalt absolvierte Roger Mäder ein Studium in Sozialer Arbeit. 2002 schloss er zudem den MAS in Management of Social Services ab und ist seit über 10 Jahren Trainer von Motivierender Gesprächsführung.