«Kindesschutz ist nicht einfach ein Bauchgefühl»

24. November 2021

Helfen Abklärungsinstrumente in der Praxis? Diese Frage beschäftigt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb), und sie sind sich uneinig. Die einen sehen die standardisierten Tools als grossen Gewinn, die anderen befürchten, dass sie den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu Kind und Eltern gefährden.

Von Marion Loher

Für die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) steht das Wohl des Kindes an erster Stelle. Bekommt die Behörde eine Meldung, dass dieses Wohl gefährdet sein könnte, sind die Mitarbeitenden verpflichtet, dies abzuklären. Judith Schneider ist Präsidentin der Kesb Rheintal. Sie und ihre Mitarbeitenden nutzen seit ein paar Jahren ein Abklärungsinstrument, um solche Gefährdungsmeldungen abzuklären. Auf Basis von Korjus, die Kompetenz- und Risikoorientierung in der Jugendstrafrechtspflege, hat die Kesb Rheintal das Handlungsmodell Korkis, Kompetenz- und Risikoorientierung für den Kindesschutz entwickelt – und die Mitarbeitenden sind sehr zufrieden damit. «Das Abklärungsinstrument orientiert sich sowohl an den Kompetenzen als auch an den Risiken», sagt Judith Schneider. «Es ermöglicht Kurz- und Vollverfahren und unterstützt uns didaktisch und diagnostisch. Zudem kann es bei Bedarf erweitert werden, beispielsweise mit psychologischen Abklärungen.»

Das Abklärungsinstrument ermöglicht Kurz- und Vollverfahren und unterstützt uns didaktisch und diagnostisch.

Judith Schneider, Präsidentin Kesb Rheintal

Für die Kesb Rheintal ist das «theoretisch fundierte und standardisierte Handlungsmodell ein riesiger Gewinn». Die Berufsbeistände bekommen nun zum Auftrag auch einen detaillierten Abklärungsbericht und die Eltern profitieren von mehr Transparenz während des gesamten Prozesses.

«Sicherheit durch Verfahren»

In den vergangenen Jahren wurden an Hochschulen und Instituten verschiedene Abklärungsinstrumente für den Kindesschutz entwickelt. Daniel Rosch ist Professor für Sozialrecht an der Hochschule Luzern und hat das Luzerner und Berner Abklärungsinstrument zum Kindesschutz (BeLuA) mitentwickelt. «Abklärungen haben ganz viel mit der Person des zu abklärenden Menschen zu tun», sagt er. Deshalb bestehe auch eine erhöhte Fehleranfälligkeit bei Beobachtungen, Beurteilungen von Situationen, bei Prognosen und Entscheidungen von Massnahmen. «Die Standardisierung gibt hier eine gewisse Sicherheit. So nach dem Motto: Sicherheit durch Verfahren», sagt Rosch. Zudem könne mit einem standardisierten Abklärungsinstrument das Kindeswohl verlässlich eingeschätzt, die Rechtsgleichheit gestärkt und die Transparenz der getroffenen Entscheidungen gesteigert werden.

Die Standardisierung gibt eine gewisse Sicherheit.

Daniel Rosch, Professor für Sozialrecht an der Hochschule Luzern

Im Weiteren würden auf nationaler als auch auf internationaler Ebene die Forderungen nach Systematisierung der Abklärung immer lauter. Er betont, dass eine qualitativ hochstehende Abklärung auch im Interesse der Beiständinnen und Beistände ist, um besser nachvollziehen zu können, was sich die Behörde bei ihren Massnahmen und Entscheiden überlegt hat.

Weniger überzeugt von den Abklärungsinstrumenten ist Andreas Hildebrand, Präsident der Kesb Region Gossau: «Ich denke nicht, dass der Einsatz solcher Instrumente so viel besser sein soll als meine herkömmlichen Methoden.» Er befürchtet, dass man bei der Anwendung solcher vordefinierten Gefährdungsindikatoren in eine trügerische Objektivität verfalle. Zudem könne dieses theoriebasierte Fragenstellen den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu Kind und Eltern gefährden.

Die Vollversion dieser Instrumente hat sich in neun Jahren Kesb nicht durchgesetzt.

Andreas Hildebrand, Präsident Kesb Region Gossau

Hildebrand fragt sich denn auch, ob das vermeintliche Hilfsmittel nicht einfach dazu diene, sich zur eigenen Beruhigung noch zu bestätigen, was man anderweitig bereits in Erfahrung gebracht habe. Der Präsident der Kesb Gossau sieht sich mit seinen Vorbehalten in guter Gesellschaft. «Die Vollversion dieser Instrumente hat sich in neun Jahren Kesb nicht durchgesetzt.»

Haltung ist genauso wichtig

Für Daniela Reutimann, Vizepräsidentin der Kesb Kreuzlingen, hingegen ist klar: «Kindesschutz ist nicht einfach ein Bauchgefühl. Jede Intervention ist zu begründen.» Die Kesb Kreuzlingen hat 2017 zusammen mit der Fachhochschule Nordwestschweiz ein Kindesschutzkonzept auf Basis des Prozessmanuals zur dialogisch-systemischen Kindeswohlabklärung der Hochschule entwickelt. Dabei sei der Behörde schnell bewusst geworden: «Das Wichtigste am Ganzen ist nicht allein das Abklärungsinstrument», sagt Daniela Reutimann, «sondern vor allem unsere Haltung». Im Team hätten sie ziemlich lange über die Haltung gesprochen, auf welchen Grundlagen Verfahren geleitet und Abklärungen durchgeführt werden. Dies seien wichtige Diskussionen und wertvolle Erfahrungen gewesen, sagt sie.

Das Wichtigste am Ganzen ist nicht allein das Abklärungsinstrument, sondern vor allem die Haltung.

Daniela Reutimann, Vizepräsidentin Kesb Kreuzlingen

Im Kindesschutzkonzept der Kesb Kreuzlingen ist jeder einzelne Prozessschritt vom Eintreffen der Gefährdungsmeldung über das Verfahren der Abklärung bis hin zur Entscheidungsfindung festgehalten sowie die Angebotslandschaft des Kantons Thurgau respektive Bezirks Kreuzlingen enthalten. Gegenüber einem Abklärungsinstrument wie dem Luzerner oder Berner Modell ist Daniela Reutimann aber weiterhin offen, da sie deren Ankerbeispiele als äusserst wertvoll einstuft.

Judith Schneider, Präsidentin der Kesb Rheintal, hofft, dass in ein paar Jahren Abklärungsinstrumente flächendeckend angewendet werden. «Ich sehe es auch als Dienst am Kind, dass sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden weiterentwickeln.»

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Community-Anlass Kindes- und Erwachsenenschutzes (KES), der zum Thema «Helfen Abklärungsinstrumente und -tools in der Praxis?» stattfand.

Weiterbildung im Bereich Kindes- und Erwachsenenschutz
Eine Tätigkeit im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes ist vielfältig und abwechslungsreich. Die Soziale Arbeit findet jedoch stets im Spannungsfeld zwischen rechtlichen und alltagsnahen Anforderungen der Adressatinnen und Adressaten statt. Das Weiterbildungsangebot der OST im Bereich Kindes- und Erwachsenenschutz unterstützt Fachpersonen in ihrer Kompetenz, die Situation der Betroffenen mit kreativen und unkonventionellen Lösungen zu verbessern.