Die Strasse der Zukunft verbindet nicht nur Orte, sondern auch Menschen miteinander

29. März 2022

Einst dienten Strassen durch Städte und Dörfer hauptsächlich als schnelle Verbindungslinien für den motorisierten Verkehr. Heute bieten sie im Idealfall auch genügend Raum für Fuss- und Velowege sowie für Begegnungszonen. Eine immer wichtigere Rolle spielen zudem Grünflächen und Bäume, denn sie sorgen für Temperaturausgleich. Doch die verfügbaren Flächen sind begrenzt. Um allen Ansprüchen gerecht zu werden, ist es deshalb unausweichlich, Strassenräume neu zu denken.

Der Velofahrer will rasch und sicher ans Ziel kommen, die Lieferantin braucht Platz zum Ausladen und der Fussgänger möchte auch mal stehen bleiben und sich unterhalten können, ohne im Weg zu sein: Die Ansprüche an Strassen sind vielfältig – so vielfältig wie die Art und Weise, sich darauf fortzubewegen. Wer mit dem Auto unterwegs ist, wünscht sich etwas anderes als jemand, der zu Fuss geht, den Bus benutzt oder sogar an der Strasse wohnt. All diesen unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, kommt einer grossen Herausforderung gleich, zumal der Platz begrenzt ist.

Auf die Bedürfnisse des Autoverkehrs ausgelegt

Wie gelingt es also, Strassenräume so zu gestalten, dass sich jede und jeder – ob öV-Benutzerin, Velofahrer, Autofahrerin, Fussgänger oder Anwohnerin – abgeholt fühlt? Wie lässt sich eine Mobilität fördern, die weniger Fläche beansprucht und weniger Emissionen wie Lärm und Abgase verursacht? Und was braucht es, um das Stadtklima zu verbessern?

«Es ist notwendig, bestehende Strassenabschnitte neu zu diskutieren und zu untersuchen, welchen Ansprüchen sie Rechnung tragen müssen.»

Claudio Büchel, Dozent für Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule

Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigt sich Claudio Büchel. Er ist Dozent für
Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, wo er unter anderem den CAS Nachhaltige Mobilität leitet. «Viele unserer Strassen sind ursprünglich komplett auf die Bedürfnisse des Autoverkehrs ausgerichtet worden», sagt er. «Ziel war, dass Personenwagen möglichst schnell von A nach B kommen.» Der Fuss- und Radverkehr sei dabei zugunsten des motorisierten Individualverkehrs oft auf der Strecke geblieben.

Aufenthaltsfunktion spielt eine wichtige Rolle

Strassen dienen nicht nur dazu, Orte miteinander zu verbinden oder Liegenschaften zu erschliessen. Sie haben auch eine Aufenthaltsfunktion – insbesondere diejenigen, die mitten durch Städte und Dörfer führen. «Die Strasse ist für die Menschen ein wichtiger Ort der Begegnung», sagt Claudio Büchel. «Bisher ging dies aber oft vergessen.» Zahlreiche Trottoirs seien so konzipiert, dass maximal zwei Personen nebeneinander hergehen könnten. «Wenn sich Bekannte unterwegs treffen und kurz einen Schwatz an Ort und Stelle halten wollen, sind sie bereits ein Hindernis für die anderen Fussgängerinnen und Fussgänger», so der Experte. Auch der Platz für Radfahrende sei oft sehr knapp bemessen. «Für sie ist aber wichtig, dass sie sich auf der Strasse sicher fühlen.»

Um die Aufenthaltsqualität der Strassen zu verbessern und letztlich mehr Menschen zu einer nachhaltigeren Fortbewegungsart zu motivieren, muss verhindert werden, dass schwächere Verkehrsteilnehmende an den Rand gedrängt werden. Es braucht deshalb grosszügige Fuss- und Radwege. Weitere Massnahmen, die sich positiv auswirken, sind Sitzgelegenheiten, kleine Brunnen, aber auch Grünflächen. Letztere spielen nicht nur für das Gemüt, sondern auch für das Stadtklima eine entscheidende Rolle, wie Claudio Büchel erklärt. «Durch die Erderwärmung kühlen Städte im Sommer nicht mehr genügend ab und die Hitze staut sich zunehmend.» Diesem Problem könne man beispielsweise mit Bäumen entgegenwirken. Sie spenden Schatten und regulieren die Temperatur nach unten.

Mit dem bestehenden Platz auskommen

Klar ist: Bäume sowie breitere Fuss- und Radwege erfordern auch mehr Fläche. «Zählt man den Platzbedarf aller Verkehrsteilnehmenden sowie den benötigten Raum für Grünflächen zusammen, müsste ein Strassenraum ungefähr 30 Meter breit sein», sagt Claudio Büchel. Die Realität sieht allerdings anders aus. Denn die Distanz zwischen den Hausreihen, die eine Strasse säumen, ist oft deutlich geringer. Gebäude deswegen abzubrechen, ist unrealistisch. Es gilt, mit dem vorhandenen Platz bestmöglich auszukommen. Doch wie erhält man mehr Spielraum?

Um Strassenräume neu zu gestalten, wenden Stadtplanerinnen und Stadtplaner verschiedene Modelle an. Unter anderem jenes des «massgebenden Begegnungsfalls». Dabei eruieren sie, auf welchen Begegnungsfall Verkehrswege ausgelegt sind und ob dies noch gerechtfertigt ist. Muss beispielsweise nach wie vor gewährleistet werden, dass zwei LKWs bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h problemlos aneinander vorbeikommen? Früher habe man sich beim Bau von Strassen oft grundsätzlich an diesem Extremfall orientiert, sagt Claudio Büchel. Unter Umständen zeige sich aber, dass dieser Fall gar nicht so oft vorkomme und eine geringere Strassenbreite für den motorisierten Verkehr ausreiche. «Somit kann man wertvolle Zentimeter gewinnen.»

Tiefere Geschwindigkeit spart Fläche

Eine weitere Möglichkeit, um den Raum effizienter zu nutzen, ist das Geschwindigkeitsregime. Dieses hat einen erheblichen Einfluss auf die notwendige Strassenbreite. «Je höher die Geschwindigkeit, desto mehr Begegnungszuschlag ist beim Kreuzen von Fahrzeugen erforderlich. Das kann bis zu einem Meter auf beiden Seiten ausmachen», so Claudio Büchel. Je tiefer die Geschwindigkeit, desto weniger Fläche werde benötigt.

Auch das Verkehrsmanagement spielt eine bedeutende Rolle. So kann man beispielsweise bei engen Platzverhältnissen einen Mischverkehr vorsehen, bei dem sich Autos und Bus bzw. Tram ein Trassee teilen. Um die Pünktlichkeit des öffentlichen Verkehrs zu gewährleisten, erhält dieser auf gewissen Abschnitten eine bevorzugte Behandlung. Gesteuert wird dies über die Lichtsignalanlage, die Bussen und Tramen grünes Licht gibt. Ein Nachteil für den Individualverkehr? Gemäss Studien nicht. Diese zeigen, dass Autofahrerinnen und Autofahrer in Verkehrssystemen mit öV-Priorisierung gleich schnell ans Ziel kommen.

 Auf flächeneffiziente Mobilitätsformen setzen

Das Verkehrsaufkommen hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und wird dies auch weiterhin tun. Was heisst das für die Strasse der Zukunft? «Es braucht intelligente Lösungen, um den begrenzten Raum bestmöglich zu nutzen», sagt Claudio Büchel. «Dazu ist es notwendig, bestehende Strassenabschnitte neu zu diskutieren und zu untersuchen, welchen Ansprüchen sie Rechnung tragen müssen.» Um wachsende Verkehrsströme zu bewältigen, gelte es zudem, in Mobilitätsformen wie den Fuss- und Radverkehr sowie den öffentlichen Verkehr zu investieren, so der Dozent. Diese Fortbewegungsarten sind im Vergleich zum Individualverkehr nicht nur leiser und sauberer, sie verursachen auch deutlich weniger Flächenverbrauch pro Person. Eine hohe Aufenthaltsqualität und ein gutes Stadtklima können wiederum dabei helfen, die Bevölkerung zum Umsteigen zu bewegen.

Dieser Beitrag basiert auf einem Webinar aus der Webinarreihe «Klüger am Abend» der Weiterbildung OST.



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