Spannungen als produktive Energie nutzen

7. April 2022

Neutral sein und doch Partei ergreifen. Oder den Datenschutz gewährleisten und gleichzeitig transparent informieren: Die Schulsozialarbeit sieht sich tagtäglich mit verschiedenen Spannungsfeldern konfrontiert. Wo liegen diese und wie gelingt es, professionell damit umzugehen?

Auf Snapchat taucht eines Tages ein gefälschtes Profil der Schülerin Anna (Name geändert) auf. Die Mutter des Mädchens wendet sich daraufhin an die Schulsozialarbeit, deren Elternabend zum Thema «Neue Medien» sie kurz zuvor besucht hatte. Ihr Anliegen ist es, dass man so schnell wie möglich aufklärt, wer hinter dem Fake-Profil steckt und dass dieses sofort gelöscht wird. Die Schulsozialarbeit wiederum informiert den Jugenddienst der Polizei sowie die Schulleitung und die Lehrperson über den Vorfall. Alle involvierten Stellen sind sich einig, dass die Person, die sich auf Snapchat fälschlicherweise als Anna ausgibt, die Möglichkeit bekommen soll, sich zu entschuldigen und den Fehler wiedergutzumachen. Der Verdacht, dass Annas Mitschüler Luca (Name geändert) die Sache zu verantworten hat, bestätigt sich schnell. Bei einem Gespräch gibt er «die Tat» zu und zeigt Reue. Gleichzeitig verdeutlich sich sein Motiv: Luca, der unter der Rolle des Aussenseiters leidet, hat das Fake-Profil erstellt, um herauszufinden, was seine Mitschülerinnen und Mitschüler hinter seinem Rücken über ihn sagen. Schnell wird klar, dass es nicht um eine Geschichte zwischen Anna und Luca geht, sondern das Problem in der Klassendynamik liegt. Die Schulsozialarbeit besucht die Klasse, bespricht mit ihr die Sachlage und stösst unter den Schülerinnen und Schülern eine kritische Auseinandersetzung über Rollenmuster an. Zudem wird gemeinsam erörtert, wie jede und jeder zur Auflösung des Konflikts beitragen kann. Innerhalb weniger Tage kehrt Ruhe ein. Luca entschuldigt sich bei Anna und löscht das Profil.

Dieser Fall beruht auf einer realen Begebenheit. Er zeigt auf, mit welchen Spannungsfeldern die Schulsozialarbeit immer wieder konfrontiert ist, macht aber auch deutlich, dass das Bewusstsein dafür hilfreich sein kann. In den Grundlagen und Umsetzungshilfen zur Schulsozialarbeit aus dem Kanton St.Gallen sind fünf exemplarische Spannungsfelder formuliert. Verfasst wurde das Dokument von Andrea Schweizer (Leiterin Fachstelle Schulsozialarbeit AR Mittelland), Nadja Schretter (Leiterin Sozialberatung und Schulsozialarbeiterin, Gemeinde Uzwil), Sabrina Schönenberger (Stellenleiterin Schulsozialarbeit, Gemeinde Flawil) und Johanna Brandstetter (Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, IFSAR OST).

Prävention und Intervention: Für präventive Angebote einstehen

Der Fall rund um das gefälschte Snapchat-Profil habe auch deshalb so schnell und reibungslos geklärt werden können, weil die Schulsozialarbeit mit Spannungsfeldern und dem Umgang mit diesen vertraut gewesen sei, sagt Nadja Schretter. So habe sich unter anderem gezeigt, wie wichtig es sei, für Prävention einzustehen – auch wenn dazu oftmals nicht ausreichend zeitliche Ressourcen zur Verfügung stünden.

«Es ist wichtig, für Prävention einzustehen – auch wenn dazu oftmals nicht ausreichend zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen.»

Nadja Schretter
Leiterin Sozialberatung und Schulsozialarbeiterin, Gemeinde Uzwil
Mitautorin Grundlagen und Umsetzungshilfen zur Schulsozialarbeit aus dem Kanton St.Gallen

«Die Klasse von Anna und Luca hatte dank präventiver Unterrichtseinheiten über Medienkompetenz bereits ein Vorwissen in diesem Bereich, an das man anknüpfen konnte», sagt sie.  Auch der Elternabend zum Thema «Neue Medien» – ebenfalls eine präventive Massnahme der Schulsozialarbeit – habe sich bewährt. Denn dadurch habe Annas Mutter sofort gewusst, an wen sie sich wenden könne.

Informationsaustausch und Schutz persönlicher Daten: Vertrauensvolle Beziehung vs. Kooperation

Eine der grössten Herausforderungen ist für Nadja Schretter der Datenschutz. Auf der einen Seite besteht der Anspruch der Schulsozialarbeit darin, vertrauensvolle Beziehungen zu den Klientinnen und Klienten aufzubauen und ihnen den Schutz persönlicher Daten zu gewährleisten. Auf der anderen Seite ist oft ein interdisziplinärer und interprofessioneller Austausch notwendig, was bedeutet, auch gewisse Informationen preisgeben zu müssen. «Im vorliegenden Fall hat viel Vernetzung stattgefunden», sagt Nadja Schretter. «Trotzdem ist es gelungen, dass alle Beteiligten die Interventionen verstanden haben und sich niemand in seinem Persönlichkeitsschutz verletzt fühlte.» Dies ist in ihren Augen auch dem Bewusstsein für dieses Spannungsfeld zu verdanken.

Neutrale Haltung und Parteilichkeit der SSA: Herausfordernder Balanceakt

Ihre Berufskollegin Sabrina Schönenberger erläutert anhand des Praxisbeispiels weitere Spannungsfelder. Darunter die Neutrale Haltung und Parteilichkeit der Schulsozialarbeit. So gelte es beispielsweise bei Mediationstätigkeiten, eine neutrale Position einzunehmen, sagt sie.

«Die Schulsozialarbeit bewegt sich immer zwischen Partei ergreifen und Neutralität, was sehr herausfordernd sein kann.»

Sabrina Schönenberger
Stellenleiterin Schulsozialarbeit, Gemeinde Flawil
Mitautorin Grundlagen und Umsetzungshilfen zur Schulsozialarbeit aus dem Kanton St.Gallen

Stelle sich jedoch heraus, dass Kinder und Jugendliche unter einer bestimmten Situation leiden, selbst aber nichts ändern könnten – wie sowohl bei Anna als auch bei Luca der Fall –, sei konkretes Handeln gefragt. «Die Schulsozialarbeit bewegt sich deshalb immer zwischen Partei ergreifen und Neutralität, was sehr herausfordernd sein kann.»

Lösungs- und Prozessorientierung: Gratwanderung zwischen zwei Ansprüchen

Ein Spannungsfeld besteht auch zwischen Lösungs- und Prozessorientierung. Einerseits gibt es die Anforderung, dass die Schulsozialarbeit Lösungen bzw. Wirkungen in bestimmten Lebenssituationen von Schülerinnen und Schülerin sowie deren Familien erreicht. Anderseits müssen auch Prozesse an den Bedürfnissen und Zielen der Betroffenen ausgerichtet werden. Diese beiden Ansprüche können sich zwischenzeitlich konkurrenzieren. «Im Fall des gefälschten Snapchat-Profils bestand der Wunsch von Anna und ihrer Mutter, dass der Täter so schnell wie möglich gefunden und das Profil gelöscht wird», erklärt Sabrina Schönenberger. Zugunsten einer nachhaltigen Konfliktlösung sei es aber auch wichtig gewesen, mit der Klasse zusammen eingeschlichene Rollenmuster zu besprechen und damit die Prozesse positiv zu beeinflussen. Diese Gratwanderung sei gut gelungen.

Fachliche Eigenständigkeit: Sich behaupten im berufsfremden Umfeld

Die fachliche Eigenständigkeit der Schulsozialarbeit an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe sowie Schule ist ebenfalls ein Spannungsfeld. «Oft ist man als Schulsozialarbeiterin oder Schulsozialarbeiter allein in einem berufsfremden Umfeld unterwegs», sagt Andrea Schweizer.

«Oft ist man als Schulsozialarbeiterin oder Schulsozialarbeiter allein in einem berufsfremden Umfeld unterwegs.»

Andrea Schweizer
Leiterin Fachstelle Schulsozialarbeit AR Mittelland
Mitautorin Grundlagen und Umsetzungshilfen zur Schulsozialarbeit aus dem Kanton St.Gallen

Wie sie und die anderen Autorinnen im Grundlagenpapier festhalten, kann es insbesondere dann, wenn kein Team der SSA vor Ort ist, den einzelnen Schulsozialarbeitenden zusätzlich schwerfallen, die fachliche Eigenständigkeit sicherzustellen und sich zum Beispiel für die Freiwilligkeit ihres Angebots oder die Sichtweise einzelner Betroffener einzusetzen. «Es ist deshalb zentral, wie die Schulsozialarbeit an einer Schule implementiert wird», sagt Andrea Schweizer. Dazu müssten im Vorfeld viele wichtige Fragen geklärt werden.

Ohne Spannungen keine Entwicklung

Auch Uri Ziegele, Dozent an der Hochschule Luzern, kennt die genannten Spannungsfelder aus seiner früheren Berufspraxis. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit setzt er sich intensiv mit der Frage auseinander, welche strukturellen Rahmenbedingungen notwendig sind, um die Funktionen Prävention, Früherkennung und Behandlung durch die Soziale Arbeit in der Schule nachhaltig zu implementieren und zu verankern. In diesem Zusammenhang hat er in einem Kompetenzprofil für Schulsozialarbeitende ausgearbeitet. Die darin festgehaltenen Kompetenzen können nicht zuletzt dabei helfen, besser mit den Spannungsfeldern in der Schulsozialarbeit umzugehen. «Früher habe ich Spannungen und Konflikte immer als etwas Schlimmes wahrgenommen», sagt Uri Ziegele. «Heute ist mir klar, dass sie das Potenzial haben, Entwicklungen und Veränderungen herbeizuführen – vorausgesetzt, man geht sie an.»

Kooperation auf allen Ebenen

Die Schulsozialarbeit hat den Anspruch, Probleme zu verhindern, zu mildern oder zu lösen. Dabei sei es eminent wichtig, mit anderen Fachpersonen der Schule in einen Dialog zu treten, sagt der Dozent. Bei der Prävention gehe es beispielsweise darum, zusammen mit den Lehrpersonen zu erörtern, welche Massnahmen sinnvoll seien. Auch bei der Früherkennung hält er die Zusammenarbeit zwischen Lehrerinnen und Lehrern sowie Schulsozialarbeitenden für essenziell. «Ideal wäre, wenn die Erwachsenen mehr zu Beobachtenden würden und sich über anspruchsvolle Situationen regelmässig austauschten – zum Beispiel an dafür vorgesehenen Konferenzen.»

«Ideal wäre, wenn die Erwachsenen mehr zu Beobachtenden würden und sich über anspruchsvolle Situationen regelmässig austauschten – zum Beispiel an dafür vorgesehenen Konferenzen.»

Uri Ziegele
Dozent an der Hochschule Luzern

Es gehe dabei aber nicht darum, sich nur auf Defizite zu konzentrieren, sondern auch die Ressourcen zu berücksichtigen. «Ziel ist es, mit einer neutralen Haltung zu schauen, wie die Kinder und Jugendlichen unterwegs sind und wie es gelingt, sie bestmöglich zu unterstützen.» Gemäss Ziegele ist Kooperation zudem auch dann gefragt, wenn bereits Probleme aufgetaucht sind und diese behandelt werden müssen. Er plädiert dafür, dass in dieser Phase nebst Lehrpersonen und schulischen sowie schulnahen Diensten auch die Eltern vermehrt miteinbezogen werden.

Dass die interprofessionelle Zusammenarbeit zugunsten der Kinder und Jugendlichen funktioniert, ist keine Selbstverständlichkeit. So gebe es einige wichtige Voraussetzungen dafür, sagt Uri Ziegele. «Unter anderem Offenheit, ein Verständnis füreinander und eine Kommunikation auf Augenhöhe.»

Auch die Autorinnengruppe hält in den Grundlagen und Umsetzungshilfen zur Schulsozialarbeit fest. «Es ist immer wieder eine respektvolle Positionierung und Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten vor Ort nötig. Auf diese Weise kann Spannung konkret als produktive Energie genutzt werden.»

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Community-Anlass Schulsozialarbeit, der zum Thema «Spannungsfelder in der Schulsozialarbeit: Kompetenzanforderungen an Fachpersonen» stattfand.

Fokus Kinderrechte und Kooperation

Die Schulsozialarbeit bietet eine niederschwellige und beziehungsorientierte Anlaufstelle im schulischen Alltag. Eine Tätigkeit in diesem komplexen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit setzt spezifisches Wissen und Können voraus. Der CAS Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule vermittelt entlang der Kinderrechtskonvention professionelle Kompetenzen und fördert die Kooperation zwischen Berufseinsteigenden und schulischen, schulnahen sowie familienergänzenden Fachstellen.