«Die Not der Betroffenen ernst nehmen, auch wenn ihre emotionalen Reaktionen nicht nachvollziehbar erscheinen.»

13. April 2022

Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden unter enormer emotionaler Instabilität. Ihr Verhalten bringt auch Fachleute immer wieder an ihre Grenzen.
Michelle Reifler, Absolventin des MAS in Psychosozialer Beratung, hat sich im Rahmen ihrer Masterarbeit vertieft mit dem Thema auseinandergesetzt. Als Berufsbeiständin bei einem polyvalenten Sozialdienst begleitet sie junge Frauen mit dieser Diagnose. Im Interview spricht sie über Krisenzustände, Fallstricke und den sogenannten Notfallkoffer.

Interview:

Sie haben Ihre Masterarbeit über die Beratung von Frauen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Rahmen einer Beistandschaft geschrieben. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Berufsalltag mit diesem Thema gemacht?

In den fünf Jahren, in denen ich an meiner jetzigen Stelle als Berufsbeiständin tätig bin, habe ich immer wieder Personen mit Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung beraten. Es waren in den allermeisten Fällen jüngere Frauen. Es wird angenommen, dass Frauen häufiger betroffen sind oder sie zumindest häufiger Hilfe und Unterstützung suchen. Bezeichnend für diese Klientinnen ist, dass sie oft wegen scheinbarer Kleinigkeiten in eine Krisensituation und eine grosse Not geraten. Deshalb kontaktieren sie uns oft und verlangen meist auch eine sofortige Lösung des Problems. In Fallbesprechungen, die wir jeweils im Team durchführen, geht es sehr häufig um Borderline-Betroffene. Diese Fälle gelten bei vielen Fachleuten als besonders anstrengend und zehrend.

Michelle Reifler, Absolventin MAS in Psychosozialer Beratung

Wie äussert sich eine Borderline-Persönlichkeitsstörung?

Das Krankheitsbild ist sehr umfangreich und umfasst viele Merkmale und Verhaltensweisen. Ein Merkmal ist beispielsweise die emotionale Instabilität. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung erleben schon bei Alltagsgeschehnissen starke Gefühlsausbrüche. Es kommt immer wieder zu Krisenzuständen und damit einhergehend zu selbstverletzendem und suizidalem Verhalten oder zur Androhung, sich etwas anzutun. Zwischenmenschlich fällt es den Betroffenen schwer, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu halten. Es fehlt ihnen manchmal das Gespür für Grenzen – auch deshalb, weil einige von ihnen in der Vergangenheit selbst Grenzüberschreitungen erlebt haben. Auffällig ist zudem, dass sie aktiv sind beim Versuch, andere zu mobilisieren für die Lösung ihrer Probleme, aber passiv bei eigenen Problemlöseversuchen.

Sie halten in Ihrer Masterarbeit fest, dass es sehr viele «Fallstricke» gibt, in die das gesamte Helfersystem tappen kann. Welche Fallstricke sind das?

Gerade, weil Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung die Tendenz haben, andere für die Lösung ihrer Probleme zu mobilisieren, ist um sie herum oft ein grosses Helfersystem zu beobachten. Dieses besteht zum einen aus Angehörigen, aber auch aus verschiedenen Fachleuten, zum Beispiel Therapeutinnen und Therapeuten. Die Vernetzung dieser Beteiligten ist sehr wichtig. Denn je mehr Stellen involviert sind, desto grösser ist die Gefahr, dass es zu Doppelspurigkeiten kommt. Das ist ein Fallstrick. Ein Weiterer kann das mangelnde Wissen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung sein. Wenn zu wenig Wissen über diese Erkrankung sowie die damit verbundenen Merkmale und Verhaltensweisen vorhanden ist, leidet das Verständnis für die Betroffenen. Das kann dazu führen, dass genervt statt empathisch reagiert wird, wenn die Klientin anlässlich eines scheinbar kleinen Problems in eine schwere Krise gerät. Es existiert auch die Annahme, dass es sich beim dramatisierenden Verhalten nur um eine Strategie handelt. Das ist aber nicht so.

Wenn zu wenig Wissen über diese Erkrankung sowie die damit verbundenen Merkmale und Verhaltensweisen vorhanden ist, leidet das Verständnis für die Betroffenen.

Was ist für Sie das Wichtigste, das Beiständinnen und Beistände wissen müssen im Umgang mit Borderline-Betroffenen?

Es ist wichtig, die Not der Betroffenen ernst zu nehmen, auch wenn ihre emotionalen Reaktionen auf Alltagsgeschehnisse nicht nachvollziehbar erscheinen. Wird die die Situation heruntergespielt, führt das eher dazu, dass sich Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung gezwungen sehen, ihre Probleme zunehmend übertrieben darstellen zu müssen, um ernst genommen zu werden. Ebenfalls als wichtig erachte ich, dass die Betroffenen immer wieder ermutigt werden, regelmässig in eine Psychotherapie zu gehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie dadurch deutlich stabiler sind.

Ist die Psychotherapie in jedem Fall angebracht bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung?

Es gibt Frauen mit dieser Diagnose, die mit zunehmendem Alter mehr Stabilität erlangen. Wenn diese keine Psychotherapie machen möchten, ist das natürlich legitim. Dringend ratsam ist die Psychotherapie aber dann, wenn die Betroffenen immer wieder starke Krisen erleben, sich selbst verletzen oder eine hohe Suizidalität aufweisen. Grundsätzlich gibt es wahrscheinlich nur wenige Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die noch nie in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung waren. Manche melden sich in Krisensituationen auch selber in der Klinik an und organisieren einen Eintritt. Das Problem ist aber nicht, dass sie sich im Notfall keine Unterstützung holen, sondern dass sie häufig nicht konstant in Psychotherapien gehen und immer wieder abbrechen. Dem können wir versuchen entgegenzuwirken, indem wir am Thema dranbleiben und dies immer wieder ansprechen.

Ihre Masterarbeit soll Berufsbeistände und Berufsbeiständinnen unterstützen in ihrer Arbeit mit Frauen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Sie stellen dazu Methoden vor, die in der Beratung hilfreich sein können. Können Sie ein Beispiel einer solchen Methode etwas genauer erläutern?

Eine Methode, die ich selbst auch schon hin und wieder anwende, ist der sogenannte Notfallkoffer. Dieser wird individuell zusammengestellt. Er enthält Strategien und Skills für Hochstress-Situationen, die sich für die jeweilige Person in der Vergangenheit als zuverlässig und wirksam erwiesen haben. Das kann beispielsweise sein, dass man kalt duscht, etwas Scharfes isst, sich sportlich betätigt, Atemtechniken anwendet oder ein Sudoku löst. Der Notfallkoffer bietet eine gute Möglichkeit, diese Strategien schwarz auf weiss festzuhalten und sie sich immer wieder vor Augen zu führen. Diese und andere Methoden kommen auch in der Psychotherapie/ im Skillstraining zum Einsatz.

Ist die Beratung mit diesen Methoden eine Alternative zur Psychotherapie?

Wenn eine Berufsbeiständin oder ein Berufsbeistand diese Methoden in der Beratung anwendet, ersetzt das keinesfalls eine Psychotherapie. Kann und will sich aber die Klientin nicht auf eine Therapie einlassen, ist es durchaus sinnvoll, einen Anteil stattdessen in der Beratung durchzuführen – im Sinne von «besser als nichts tun».  Die Arbeit mit diesen Methoden kann auch ein niederschwelliger Einstieg sein, wobei skeptische Klientinnen erfahren, was überhaupt gemacht werden könnte in einer Psychotherapie. Bei kleinen Erfolgen und positiven Erfahrungen entscheiden sie sich dann vielleicht eher für eine Psychotherapie. Berufsbeistände und Berufsbeiständinnen sollten aber immer versuchen, instabile Klientinnen zu motivieren, sich in Behandlung zu begeben. Auch ist eine Zusammenarbeit mit dem behandelnden Psychotherapeuten oder der behandelnden Psychotherapeutin sinnvoll, damit nicht gegeneinander oder zweigleisig gearbeitet wird.

Hat sich Ihr Umgang mit Borderline-Betroffenen durch Ihre Masterarbeit verändert?

Je mehr ich über diese Erkrankung weiss, desto erklärbarer und verständlicher werden die Merkmale und Verhaltensweisen der Klientinnen. Das verändert meiner Meinung nach die Haltung. Ich habe durch meine Masterarbeit auf jeden Fall mehr Sicherheit gewonnen in der Frage, wie ich auf verschiedene Herausforderungen reagieren soll.

Inwiefern fliessen die Erkenntnisse aus Ihrer Masterarbeit in die Praxis ein?

Das Wissen, das ich erlangt habe, bringe ich zum Beispiel im Rahmen von Fallbesprechungen ein. Auch habe ich meine Arbeit intern zum Lesen zur Verfügung gestellt. Geplant ist zudem, dass ich einen Input zum Thema mache auf unserer Stelle – so wie das bei uns im Team üblicherweise der Fall ist, wenn jemand eine Weiterbildung abgeschlossen hat.