Ob in Scheidungsprozessen, bei Sorgerechts- und Besuchsrechtsstreitigkeiten oder im Falle einer ausserfamiliären oder fürsorgerischen Unterbringung: Kinder haben ein Recht darauf, den eigenen Willen einzubringen, wenn in Gerichts- und Verwaltungsverfahren über ihre weitere Lebenssituation entschieden wird. Unterstützung könnten sie dabei durch eine Kindesvertretung erfahren, die sich für ihre Interessen und Rechte einsetzt. Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden hätten die Möglichkeit, dieses Instrument anzuordnen, zeigen dabei aber vielerorts Zurückhaltung – auch wegen Vorbehalten.
Von Ursula Ammann
«Jeder spricht über mich, aber niemand mit mir.» Diesen Satz hört Patrizia Carù oft. Als Sozio-Juristische Fallführerin bei Mavivo begleitet sie Kinder und Jugendliche in – meist strittigen – Rechtsverfahren, zum Beispiel in Scheidungsprozessen oder in Kindesschutzverfahren. Ihre Aufgabe ist es, den Interessen und dem Willen ihrer jungen Klientinnen und Klienten Gehör zu verschaffen. «Sie geraten schon in jungen Jahren zwischen die Fronten ihrer Eltern und haben in Konflikten auch oft mit widersprüchlichen Informationen und Gefühlen zu kämpfen», sagt die Sozialarbeiterin, die auf Kindesvertretungen spezialisiert ist.
«Während Gesellschaft, Politik und Justiz Kinder früher vor allem als Objekte gesehen haben, über deren Köpfe man hinwegbestimmen konnte, sind sie nun mehr und mehr zu Subjekten und Rechtsträgern geworden. Der Weg zur eigenständigen Partizipation ist aber noch weit.»
Patrizia Carù, Sozio-Juristische Fallführerin bei Mavivo
Häufig erlebt sie, dass es die Kinder sehr schätzen, eine aussenstehende, neutrale Drittperson zur Seite zu haben. Trotzdem sind Kindesvertretungen auch mit grossen Herausforderungen verbunden. «Nicht selten befinden sich Kinder in einem Loyalitätskonflikt oder haben Mühe, sich zu äussern, so Patrizia Carù. Deswegen sei in jedem Fall ein individuelles Vorgehen und viel Feingefühl gefragt. Druck gelte es hingegen unbedingt zu vermeiden. Besonders wichtig ist für sie, dass die Kinder den Kontakt mit der Kindesvertretung als positiv erleben und sich dadurch gestärkt fühlen. So achtet sie nicht zuletzt darauf, Gespräche in ungezwungener Atmosphäre zu führen: zum Beispiel auch mal auf einem Klettergerüst.
Vom Objekt zum Subjekt
Das Recht der Kinder auf Mitsprache und Mitbestimmung in sie betreffenden Angelegenheiten ist mittlerweile in mehreren Gesetzen und Übereinkommen festgehalten. Etwa in der UN-Kinderrechtskonvention. «Während Gesellschaft, Politik und Justiz Kinder früher vor allem als Objekte gesehen haben, über deren Köpfe man hinwegbestimmen konnte, sind sie nun mehr und mehr zu Subjekten und Rechtsträgern geworden», sagt Patrizia Carù. Der Weg zur eigenständigen Partizipation sei aber noch weit – auch deshalb, weil Kindesvertretungen immer noch zu zurückhaltend angeordnet würden. Für die Expertin ist klar: «Es braucht eine Sensibilisierung der Behörden.»
«Wir konnten beobachten, dass Eltern eine unglaubliche Betroffenheit entwickeln, wenn sie durch eine Kindesvertretung mit den Bedürfnissen ihrer Kinder konfrontiert werden. Dadurch sind sie eher zu kindgerechten Lösungen bereit».
Denise Freitag, Präsidentin der KESB Kanton Schaffhausen
Kindesvertretungen werden im Auftrag einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder eines Zivilgerichtes eingesetzt. Denise Freitag ist Präsidentin der KESB Kanton Schaffhausen. Ihre Behörde prüft im Rahmen von Abklärungen von Amtes wegen, ob eine Kindesvertretung notwendig ist und ordnet eine solche auch an – insbesondere, wenn es um Unterbringungen geht. Die Juristin und ihr Team haben bisher gute Erfahrungen mit diesem Instrument gemacht. «Wir konnten zum Beispiel beobachten, dass Eltern eine unglaubliche Betroffenheit entwickeln, wenn sie durch eine Kindesvertretung mit den Bedürfnissen ihrer Kinder konfrontiert werden. Dadurch sind sie eher zu kindgerechten Lösungen bereit», sagt Denise Freitag. Sie ist zudem überzeugt, dass sich Kindesvertretungen beruhigend auf das Verfahren auswirken können.
Andreas Hildebrand, Präsident der KESB Region Gossau, hat hingegen Vorbehalte. Zwar ist er nicht grundsätzlich gegen Kindesvertretungen, sieht darin aber keinen wirklichen Mehrwert. «Wir haben seitens der Behörde viel in kindgerechte Anhörungen investiert und erleben, dass sich die Kinder uns gegenüber öffnen und uns ohne Druck ihren Willen mitteilen», sagt er. «Wozu braucht es eine zusätzliche Fachperson, die das Kind nochmals ausfragt und das dasselbe herausfindet?» Es sei nicht so, dass es erst eine Kindesvertretung brauche, um zu verstehen, was ein Kind möchte.
«Wir haben seitens der Behörde viel in kindgerechte Anhörungen investiert und erleben, dass sich die Kinder uns gegenüber öffnen und uns ohne Druck ihren Willen mitteilen. Wozu braucht es eine zusätzliche Fachperson, die das Kind nochmals ausfragt und das dasselbe herausfindet?»
Andreas Hildebrand, Präsident der KESB Region Gossau
Die Tatsache, dass Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden vieler Kantone dieses Instrument immer noch mit Zurückhaltung anwenden, ist für ihn ein Stück weit Beleg für dessen marginalen Nutzen. In seinen Augen besteht zudem die Gefahr, dass sich ein Verfahren durch zusätzlich involvierte Fachpersonen unnötig aufbläht. «Am Schluss gibt es verschiedene Player, die aber alle das Gleiche sagen», so Andreas Hildebrand.
Kindesanhörung versus Kindesvertretung
Das sieht der Rechtsanwalt und zertifizierte Kinderanwalt Christof Bläsi, der seit 2015 Kindesvertretungen macht, anders. Studien zufolge seien in komplexen Kindesschutzverfahren über 30 Fachpersonen beteiligt, sagt er. «Es ist nicht ausgerechnet die Kindesvertretung, die den Rahmen sprengt». Ausserdem sieht er einen bedeutenden Unterschied zwischen der Kindesanhörung durch die KESB und der Kindesvertretung. Die Kindesanhörung finde meist in Verfahren nur einmal statt und sei somit eine Momentaufnahme, die Kindesvertretung aber stehe Kindern während des gesamten Verfahrens zur Seite. Für ihn ist klar: «Das Kind hat das Recht auf Partizipation, das Recht vertreten zu sein.» Insbesondere, wenn es um Entscheide wie beispielsweise Platzierungen gehe, die dessen Lebenssituation massgeblich beeinflussen.
«Das Kind hat das Recht auf Partizipation, das Recht vertreten zu sein. Insbesondere, wenn es um Entscheide wie beispielsweise Platzierungen geht, die dessen Lebenssituation massgeblich beeinflussen.»
Christof Bläsi, Rechtsanwalt und zertifizierte Kinderanwalt
Christof Bläsi erachtet es aber nicht in jedem Fall für notwendig, dass die Behörden eine Kindesvertretung anordnen. Denise Freitag plädiert punkto Kindesvertretungen ebenfalls für ein Handeln mit Augenmass. Ziel müsse es letztlich sein, die schwächsten Glieder in der Kette zu berücksichtigen. «Ein Kind soll nicht das Gefühl der Ohnmacht erleben müssen», sagt sie. Diese Haltung vertritt auch Andreas Hildebrand. «Es gilt, die Rechte der Kinder hochzuhalten und zu schützen.» Die Wichtigkeit, dem Kindeswillen Gehör zu verschaffen, ist unbestritten. Die Debatte darüber, welches das richtige Instrument dazu ist, wird die Fachwelt aber weiterhin beschäftigen.
Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Community-Anlass Kindes- und Erwachsenenschutzes (KES), der zum Thema «Kindesvertretung – zurückhaltende Anwendung eines wichtigen Instruments» stattfand.