Den wichtigen Dingen einen Raum geben

10. August 2022

Vier Wochen, vier unterschiedliche Stellplätze und unzählige Wünsche, Gedanken und Hoffnungen, verfasst von einer Vielzahl an Menschen: Das Projekt «Bevor ich sterbe, möchte ich…» hat gezeigt, dass das Thema Leben und Lebensende auch bei den St.Gallerinnen und St.Gallern seinen Platz hat.

Von Prof. Dr. Andrea Kobleder und Marlene Matzinger

Im Mai 2022 kam das Projekt «Bevor ich sterbe, möchte ich…» nach St.Gallen. An vier unterschiedlichen Orten in der Stadt wurde für jeweils eine Woche ein schwarzer Kubus aufgestellt, auf dem Menschen ihre Hoffnungen, Wünsche, Ambitionen und Träume zum Thema «Leben und Lebensende» mit Kreide anonym festhalten konnten. Ziel war es, die St.Galler Bevölkerung dazu zu motivieren, in ihrem Alltag innezuhalten, über die eigene Endlichkeit zu reflektieren und mit sich und den Menschen im Umfeld in einen Diskurs zu treten.

Ursprung in den USA

Das partizipative Kunstprojekt wurde unter dem Originaltitel «Before I die» 2009 von der taiwanesisch-amerikanischen Künstlerin Candy Chang ins Leben gerufen. Sie stellte die Tafeln erstmalig in New Orleans (USA) auf, nachdem sie einen geliebten Menschen verloren hatte. Ihr wurde damals bewusst, dass Menschen sich erst mit der Endlichkeit des Lebens befassen, wenn sie direkt damit konfrontiert werden. Chang ist überzeugt, dass die Tafeln dabei helfen können, die eigene Sterblichkeit zu reflektieren und sich als Gesellschaft mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen. Die Künstlerin schafft mit dem Projekt neue Räume, um das eigene Innenleben anhand von Kreide und einer Tafel anonym nach aussen zu tragen. Seither wurden in über 78 Ländern mehr als 5000 Wände und Tafeln aufgestellt und Wünsche, Gedanken und Hoffnungen zum Thema «Leben und Lebensende» in über 35 Sprachen verfasst. Die Tafeln bieten die Möglichkeit sich selbst, aber auch die Nachbarn, die Gemeinde oder die eigene Stadt besser oder anders kennenzulernen.

Hinter dem Projekt «Bevor ich sterbe, möchte ich…» in St.Gallen stehen sechs Frauen, die sich beruflich auf unterschiedliche Art und Weise mit gesellschaftlichen Fragestellungen und Themen rund um das Lebensende beschäftigen. Die OST – Ostschweizer Fachhochschule ist mit ihrem Kompetenzzentrum OnkOs für Onkologische Pflegeforschung und Lehre ebenfalls beteiligt und begleitet das Projekt wissenschaftlich. Die Forschung soll Erkenntnisse generieren, wie Menschen das Thema Sterblichkeit reflektieren und generationenübergreifende Aspekte berücksichtigen.

Grosses Interesse

Was ist den St.Gallerinnen und St.Gallern wirklich wichtig, wenn sie ans Leben und ans Lebensende denken? Was sind ihre Wünsche und Hoffnungen, ihre Ambitionen und Träume, wenn sie den Satzanfang «Bevor ich sterbe, möchte ich…» lesen? Das Interesse und die Beteilung an dem Projekt war während des vierwöchigen Aufenthalts des Kubus gross. Viele hielten ihre Gedanken mit Kreide fest, begutachteten die bereits verfassten Zitate, kamen untereinander ins Gespräch, tauschten sich aus und reflektierten gemeinsam über das Leben. Wir führten Interviews mit Passantinnen und Passanten unterschiedlichster Herkunft, verschiedenen Alters und vielfältigstem Background. Auch Organisationen und Vereine, die sich mit dem Thema identifizieren konnten, hielten Informationsabende, Vorträge und Workshops ab. Es fanden eine Vernissage, ein Kinoabend und noch vieles mehr statt. Das Ziel, den öffentlichen Diskurs anzuregen, konnte erreicht werden.

Um einen Überblick über die gesammelten Zitate zu erhalten, wurden diese zu Kategorien zusammengefasst:

Am wichtigsten ist der St.Galler Bevölkerung, sich persönlich weiterzuentwickeln, etwas Neues zu lernen oder sich einen persönlichen Wunsch zu erfüllen. Dem eigenen Leben Bedeutung zu geben und den Moment in vollen Zügen zu geniessen sowie geliebt zu werden und zu lieben, sind weitere bedeutsame Wünsche, die an der Wand festgehalten wurden. Ebenso essenziell ist es für die St.Gallerinnen und St.Galler zu reisen und Zeit mit der Familie zu verbringen. Glücklich und zufrieden zu sein, die eigene Religiosität ausleben zu können sowie in einer friedlichen Welt zu leben, sind Aspekte, welche für die Menschen Bedeutung haben, wenn sie ans Leben und ans Lebensende denken.

Die vielen Gespräche zwischen unbekannten Menschen an der Wand, die respektvollen und wertschätzenden Begegnungen sowie das ehrliche Interesse am Gegenüber haben gezeigt, dass das Thema Leben und Lebensende seinen Platz mitten im Leben hat.

Themenschwerpunkt Palliative Care

Von der OST – Ostschweizer Fachhochschule sind Andrea Kobleder und Eleonore Arrer vom Institut für Pflegewissenschaft IPW am Projekt «Bevor ich sterbe, möchte ich…» beteiligt. Zurzeit werden die Interviews mit den Passantinnen und Passanten ausgewertet. Ergebnisse werden im September 2022 erwartet. Die beiden Frauen engagieren sich zum Thema Palliative Care in der Forschung, Lehre und Weiterbildung. Andrea Kobleder leitet zudem seit 2018 den MAS in Palliative Care.