Besser gewappnet für stressige Situationen

1. September 2022

Stress erhöht nachweislich das Risiko für psychische und physische Krankheiten. Wie sehr er der Gesundheit tatsächlich schadet, hängt aber massgeblich davon ab, wie lange er andauert und wie man damit umgeht. Klar ist: Das Wissen um Stress und Stressoren sowie einfache Strategien zur Stressbewältigung wirken sich positiv aus.

Er taucht in allen Lebensphasen auf, man kennt ihn überall auf der Welt und sein Name lautet in vielen Sprachen gleich: Stress. Die WHO bezeichnet diesen Zustand als «eine der grössten gesundheitlichen Gefahren des 21. Jahrhunderts». Die Folgen sind vielfältig. Sie reichen von Bluthochdruck über Angststörungen bis hin zu Depressionen oder Autoimmunerkrankungen. Doch welches Mass an Stress ist für Körper und Psyche schädlich? Was sind Warnsignale? Und was kann man tun, um besser mit Stress umzugehen?

Urbiologisch bei uns angelegt

Manuel P. Stadtmann, Leiter des Kompetenzzentrums für psychische Gesundheit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, hat sich lange mit dem Thema Stress auseinandergesetzt – sowohl im klinischen Bereich als auch in der Forschung. «Stress ist urbiologisch bei uns angelegt und nicht per se negativ. Er aktiviert Mechanismen, die teilweise überlebensnotwendig sind», sagt der Professor. Anschaulich erläutern lässt sich dies am Beispiel des Säbelzahntigers. Standen unsere Urahnen einem solchen gegenüber, waren sie dank des stressbedingten Energieschubs in der Lage, zu kämpfen oder zu flüchten. Heute stellt der Säbelzahntiger zwar keine Bedrohung mehr dar. Dennoch verhilft uns Stress in vielen anderen Situationen dazu, in die Handlung zu kommen. Wer beispielsweise verschlafen hat und unbedingt den Zug erwischen muss, der läuft unter Druck viel eher zur Höchstform auf.

Trotz wachsenden Bewusstseins mehr gestresst

Sich ab und zu gestresst zu fühlen, gibt grundsätzlich noch keinen Grund zur Sorge. «Das Leben ist voller unvorhersehbarer Höhen und Tiefen, die unweigerlich zu Stress führen», sagt Manuel P. Stadtmann. «Ob in der Beziehung, im Familienleben oder bei der Arbeit.» Schnelllebigkeit, gesellschaftlicher Wandel und Digitalisierung sind im 21. Jahrhundert als Stressoren dazugekommen. In diesem Zusammenhang hat sich als Unterkategorie der Begriff «Technostress» etabliert.

«Beschwerden wie chronische Kopf- oder Rückenschmerzen können Warnsignale sein.»

Prof. Dr. Manuel P. Stadtmann, Leiter des Kompetenzzentrums für psychische Gesundheit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule

Für die Gesundheit sei letztlich entscheidend, wie lange der Stress anhalte und ob man über Ressourcen verfüge, zwischendurch wieder zur Ruhe zu kommen, so Stadtmann. «Die Forschung zeigt aber, dass wir trotz wachsenden Bewusstseins gestresst sind und durch anspruchsvolle Anforderungen im 21. Jahrhundert erschöpft werden.»

Langfristig erhöhter Cortisolspiegel schadet

Nach Definition des berühmten Mediziners, Biochemikers und Hormonforschers Hans Selye (1907 – 1982) ist Stress «ein komplexes, einheitliches und unspezifisches Reaktionsmuster eines Organismus auf eine mögliche Form von Belastung oder Anforderung, das der Anpassung des Organismus an diese Belastung dient.» Dieses Reaktionsmuster läuft im Körper auf einer neuronalen und einer endokrinen Ebene ab. Nervenstränge des sympathische Nervensystem senden zum Mark der Nebennieren die Botschaft Stress, Adrenalin und Noradrenalin werden ausschüttet. Auf der anderen Seite produziert der Hypothalamus das Corticotropin-Releasing-Hormon CRH, das sich seinen Weg durch die Hypophyse und die Nebennierenrinde bahnt und schliesslich als Cortisol im Blut landet. «Ist der Spiegel dieses Hormons über längere Zeit erhöht, kann das den Körper schädigen», erklärt Manuel P. Stadtmann. Durch das Cortisol spannen sich etwa die Muskeln an. Kurzfristig führt dies sinnvollerweise zu verbesserten Reflexen. Bleibt die Anspannung jedoch längerfristig bestehen, zieht dies unter Umständen chronische Kopf- oder Rückenschmerzen nach sich. Solche Beschwerden sind gemäss Manuel P. Stadtmann möglicherweise ein Warnsignal.

Die Liste der Beispiele ist noch viel länger: Unter Stress steigt unter anderem der Blutdruck, was längerfristig Herzkreislauf-Erkrankungen auslösen kann. Oder die stressbedingt gehemmte Verdauungstätigkeit, die eigentlich dazu dient, kurzfristig Energie für Kampf und Flucht bereitzustellen, stellt längerfristig ein Risiko für Störungen des Magen-Darm-Traktes dar. Kurzum: Wird die durch Stress mobilisierte Energie nicht abgebaut, droht der Körper aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Stressreaktion ist individuell

Ob wir Stress empfinden oder nicht, ist nicht nur von der Situation selbst abhängig, sondern auch davon, wie wir diese verarbeiten. Angenommen, man ist auf der stark befahrenen Autobahn unterwegs und wird von einem Wagen überholt, dessen Fahrer unmittelbar danach auf 70 km/h abbremst: ein Szenario, das wohl selbst in der Vorstellung niemanden kalt lässt. Wüsste man aber, warum der Fahrer sein Tempo so abrupt drosselt – nämlich, weil er gerade eine Schreckensnachricht bekommen hat – würde dies unsere Interpretation verändern. Das Ereignis würde damit nachvollziehbar und liesse im Idealfall das Gefühl aufkommen, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht und uns nicht zuletzt stärker macht für künftige Situationen. In der Fachsprache wird diese Empfindung als Kohärenzsinn bezeichnet. Darunter versteht man das tiefliegende Vertrauen, dass Aufgaben im Leben eine gewisse Sinnhaftigkeit haben und erklärbar sowie bewältigbar sind. «Wenn wir es schaffen, auch den Kohärenzsinn besser in den Alltag zu integrieren, kann dies das Stressempfinden reduzieren», sagt Manuel P. Stadtmann.

Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist die persönliche Widerstandsfähigkeit. Wie gross diese ist, hängt davon ab, in welchem sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontext sich eine Person bewegt. Je nachdem wie wir aufwachsen, desto mehr oder weniger ausgeprägt sind die Ressourcen, die wir dem Stress entgegensetzen können. Wer beispielsweise bereits in der Kindheit Traumatisierungen und ein ständiges Gefühl des Bedrohtseins erlebt, hat es schwerer, mit stressigen Situationen umzugehen. Die gute Nachricht aber ist: Jede und jeder kann einfache Bewältigungstechniken erlernen, die sich positiv auf den Umgang mit Stress auswirken, und so das Wohlbefinden und die Gesundheit fördern.

Breites Repertoire an Strategien

Ein Ansatz ist das Entspannungstraining. Hierbei geht es darum, die eigene Anspannung wahrzunehmen, sich den Wechsel von Anspannung und Entspannung bewusst zu machen, Entspannung zu geniessen und diese trainierte Fähigkeit im Alltag gezielt anzuwenden. Gelingen kann dies beispielsweise mit autogenem Training, Yoga und Tai-Chi oder Gartenarbeit. Auch die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson hat sich in diesem Zusammenhang bewährt. «Davon reichen auch schon 10 Minuten am Tag, um eine Verbesserung herbeizuführen», sagt Manuel P. Stadtmann.

Das Mentaltraining ist ein weiterer Baustein in der Stressbewältigung. Es bedeutet, förderliche Denkweisen und Einstellungen zu entwickeln. Dies beginnt mit der bewussten Wahrnehmung der eigenen Gedankenwelt, die man möglichst nicht bewertet, sondern einfach beobachtet.

Das Problemlösetraining hilft derweil dabei, Stresssituationen wahrzunehmen, anzunehmen und zu verändern. Es besteht darin, den persönlichen Stressoren und dem dadurch ausgelösten Stress auf die Spur zu kommen und hilfreiche Strategien zu entwickeln, um auf künftige Problemsituationen gelassener zu reagieren.  

Auch das Genusstraining kann bei der Stressbewältigung ein wichtiger Faktor sein – gerade in einer Gesellschaft, die der Arbeit einen überaus hohen Stellenwert beimisst. Genusstraining heisst, einen Ausgleich zu den Belastungen im Beruf zu schaffen – sei es durch ein Hobby, Kontakt und Geselligkeit oder Erlebnisse in der Natur.

Was wie gut funktioniert, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die Kunst besteht darin, das Richtige für sich herauszupicken. Manuel P. Stadtmann empfiehlt, stets neue Techniken auszuprobieren und sich mit einem breiten Repertoire an Stressbewältigungsstrategien auszurüsten. «Je grösser der persönliche Rucksack und die Erfahrung mit Strategien im Umgang mit Belastungen ist, desto besser.»

Weiterführende Links

Weiterbildung im Bereich psychische Gesundheit

Psychische Gesundheit wird nicht nur von der Fähigkeit beeinflusst, mit den eigenen Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen umzugehen oder mit anderen zu interagieren. Massgebend sind auch soziale, kulturelle, wirtschaftliche, politische und ökologische Faktoren wie Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Unterstützung in der Gemeinschaft. Der Zertifikatskurs (CAS) Personzentrierte psychische Gesundheit fokussiert auf das holistische Erkennen und Verstehen der psychischen Gesundheit. Dabei erhält die Perspektive von Peers besondere Aufmerksamkeit, ebenso die Einschätzung und Förderung der Lebensqualität der Betroffenen. Zudem stehen Interventionen und Handlungsstrategien, die sich an der Lebenswelt der Betroffenen orientieren, im Vordergrund.

Dieser Beitrag basiert auf einem Webinar aus der Reihe «Klüger am Abend» der Weiterbildung OST.