«Nur wer psychisch gesund ist, kann professionelle Unterstützung leisten»

10. November 2022

Für viele Fachpersonen im schulischen Bereich ist die Arbeitsbelastung seit längerer Zeit sehr hoch. Viele fühlen sich ausgelaugt und die Zeit, auf die eigene psychische Gesundheit zu achten, kommt zu kurz. Doch genau das wäre wichtig. Beatrice Neff von der Fachstelle Prävention und Gesundheitsförderung der Perspektive Thurgau empfiehlt, sich regelmässig seiner eigenen Befindlichkeit bewusst zu werden, um frühzeitig reagieren zu können.

Von Marion Loher

Ein Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz fühlt sich emotional erschöpft. Damit übersteigt der Anteil erstmals seit 2014 die 30-Prozent-Marke. Dies zeigt der aktuelle Job-Stress-Index der Gesundheitsförderung Schweiz. Besonders betroffen sind Fachpersonen wie Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Schulsozialarbeitende, deren Arbeitsalltag sich seit der Corona-Pandemie und der Ukraine-Krise stark intensiviert hat. Im Job-Stress-Index werden die Dimensionen Zeitdruck, Unklarheit bezüglich Arbeitsaufgaben, arbeitsorganisatorische Probleme, qualitative Überforderung und soziale Belastungen durch Vorgesetzte oder Arbeitskolleginnen und -kollegen untersucht, die häufig auch im Arbeitsalltag der Schulsozialarbeitenden komplexe Anforderungen an diese stellen.

«Oft nehmen sich Fachpersonen zu wenig Zeit für sich selbst», sagt Martina Good, Leiterin CAS Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Bezeichnend hierfür erscheint die diesmal geringe Anzahl der Teilnehmenden am Anlass, was sich Good dadurch erklärt, dass dem Thema im Alltag noch zu wenig Relevanz beigemessen wird. Doch gerade im schulischen Kontext hätten Erwachsene und Fachpersonen eine Vorbildfunktion und eine besondere Verantwortung für die jungen Menschen, mit denen sie zusammenarbeiten. «Nur wenn sich die Fachpersonen psychisch gesund fühlen, können sie ihren Klientinnen und Klienten professionelle Unterstützung bieten.» Ziel müsse sein, eine Schulkultur zu entwickeln, in der die psychische Gesundheit auch auf der konzeptionellen Ebene einen zentralen Stellenwert einnehme.

«Oft nehmen sich Fachpersonen zu wenig Zeit für sich selbst»

Martina Good
Kursleiterin CAS Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule

Psychische Erkrankung ist ein Tabu-Thema

Beatrice Neff leitet den Bereich Psychische Gesundheit bei der Perspektive Thurgau. Die Fachstelle unterstützt mit Präventionsprojekten und Beratungsangeboten die Thurgauer Bevölkerung dabei, bewusster mit ihren Ressourcen umzugehen, und Lebensbedingungen zu schaffen, die für die Gesundheit förderlich sind. Ein wichtiger Teil der Arbeit von Beatrice Neff ist die Aufklärung im Bereich psychische Krankheiten. Pro Jahr erkrankt etwa ein Drittel der Bevölkerung an einer psychischen Störung. «Trotzdem ist das Thema nach wie vor sehr tabuisiert», sagt sie. Betroffene hätten oft Schuldgefühle und wüssten nicht, wie sie über die Erkrankung sprechen sollten, und Nichtbetroffene hätten häufig Berührungsängste. Beatrice Neff ist es einerseits wichtig dabei zu unterstützen, dass beide Seiten offen mit dem Thema umgehen können. Andererseits möchte sie die Botschaft vermitteln, dass präventiv etwas getan werden kann, um die eigene Psyche zu stärken. «Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Herausforderung gemeistert werden kann, ohne in eine Krise zu kommen oder gar zu erkranken.» Sie empfiehlt, regelmässig innezuhalten, die eigenen Gefühle zu lesen und wahrzunehmen, ob es einem gut geht, man sich in einer heiklen Phase befindet oder ob einem bereits alles über den Kopf wächst. «Wenn einem über eine längere Zeit alles zu viel ist, läuft man in Gefahr, eine psychische Erkrankung zu entwickeln», sagt die Expertin. Dieses Wissen über sich und seine Gefühle sei enorm wichtig, um sich Gedanken darüber zu machen, was man brauche, damit es einem gut gehe – auch am Arbeitsplatz.

«Wichtig ist, das negative Gedankenkarussell zu durchbrechen und den Fokus auf etwas Positives zu legen. Das ist hilfreich, trainier- und erlernbar.»

Beatrice Neff
Angebotsleiterin Psychische Gesundheit bei Perspektive Thurgau

Positive Gedanken spielen bei der psychischen Gesundheit ohnehin eine bedeutende Rolle. «Wichtig ist, das negative Gedankenkarussell zu durchbrechen und den Fokus auf etwas Positives zu legen. Das ist hilfreich, trainier- und erlernbar.» Als Initiantin der ersten Online-Meldestelle für Glücksmomente in der Schweiz, die in Kooperation mit dem Erfinder der analogen Glücksmomente-Meldestelle Mark Riklin entstanden ist, hat sie hier bereits viel Erfahrung. «Es sind kleine und einfache Dinge, die einem helfen», so die Expertin. Man kann beispielsweise am Morgen eine Schnur oder ein Band mit zur Arbeit nehmen und immer, wenn einem etwas Schönes passiert, einen Knoten in das Band oder die Schnur machen. Oder man nimmt eine Handvoll Bohnen in die eine Hosentasche. «Erlebt man einen Glücksmoment, kann man eine Bohne in den anderen Hosensack tun.» Und am Abend schaut man nach, wie viele Knoten im Band respektive Bohnen in der anderen Hosentasche sind. «Man wird überrascht sein, wie viele schöne Dinge einem an einem einzigen Tag passieren», sagt Beatrice Neff. «Diese positiven Gedanken helfen, die psychische Gesundheit zu stärken.»

Schon Kinder sensibilisieren

 «Die Gesundheit junger Menschen  ist das Hauptanliegen» der fit4future foundation, welche 2004 die Gesundheitsinitiative «fit4future» ins Leben gerufen hat und sich in den Bereichen Bewegung, Ernährung und psychische Gesundheit betätigt. In enger Zusammenarbeit mit Lehrpersonen und Eltern werden Kinder spielerisch zu mehr Bewegung und einer ausgewogenen Ernährung motiviert. Gleichzeitig wird ihre mentale Gesundheit gefördert. Der Fokus von «fit4future» liegt auf den Schulen. «Wir wollen den Mädchen und Buben im Primarschulalter Mittel mitgeben, wie sie ihre eigene psychische Gesundheit fördern können», sagt Projektleiterin Nora Leuthold. Mittlerweile macht bereits jede dritte Primarschule in allen Schweizer Kantonen bei der nationalen Initiative mit. Sie profitieren von kostenlosen, lehrplankonformen Materialien, spezifischen Lehrmitteln und verschiedenen Veranstaltungen wie Ferien-Sportcamps, Workshops oder Kochkurse.

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Community-Anlass Schulsozialarbeit, der zum Thema «Burnout im schulischen Kontext frühzeitig erkennen und handeln» stattfand.

Fokus Kinderrechte und Kooperation

Die Schulsozialarbeit bietet eine niederschwellige und beziehungsorientierte Anlaufstelle im schulischen Alltag. Eine Tätigkeit in diesem komplexen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit setzt spezifisches Wissen und Können voraus. Der CAS Schulsozialarbeit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule vermittelt entlang der Kinderrechtskonvention professionelle Kompetenzen und fördert die Kooperation zwischen Berufseinsteigenden und schulischen, schulnahen sowie familienergänzenden Fachstellen.