Mehr Verständnis für Interdisziplinarität schaffen

16. Dezember 2022

Von Marion Loher

Juristinnen und Juristen, Sozialarbeitende sowie Psychologinnen und Psychologen: In der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) arbeiten Fachpersonen unterschiedlicher Professionen zusammen. Diese Interdisziplinarität bietet viele Chancen, kann aber auch eine Herausforderung sein. So wird immer mal wieder der Ruf nach einer Leitdisziplin laut, wobei sich insbesondere die Soziale Arbeit und das Recht konkurrenzieren. Soll ein Fachbereich respektive eine Fachperson eine führende Rolle in der KESB übernehmen? Wenn ja, welche Disziplin hat Anspruch darauf?

Das Recht als «Leitplanke»

Peter Dörflinger ist Präsident der KESB Appenzell Ausserrhoden und Jurist und Pädagoge. In einem Fachartikel zur interdisziplinären Zusammenarbeit hat er 2015 geschrieben, dass basierend auf der Botschaft des Bundesrats, «dem Recht die Funktion einer Leitdisziplin» zukomme. «Das Recht ist der unabdingbare Rahmen für die Tätigkeiten in der KESB», sagt er. «Wir können nicht machen, was wir für gut befinden, sondern nur das, wofür uns das Recht Instrumente zur Verfügung stellt.» In diesem Sinn sei das Recht eine Leitplanke, der Weg zum Entscheid jedoch interdisziplinär. «Wer als Mitglied der Behörde in eine KESB gewählt wurde, hat die gleichen Rechte wie alle anderen und auch dieselben Pflichten. Das heisst, man muss sich auch mit Fragen zu verschiedenen Themen wie Verfahrensrecht, Revision oder Vermögungsverwaltung auseinandersetzen.» Und genau hier sieht er ein Grundproblem. Oft würde es nämlich heissen, dass man eben kein Jurist oder Treuhänderin sei und deshalb dies oder das nicht beurteilen könne, so Dörflinger.

«Wir können nicht machen, was wir für gut befinden, sondern nur das, wofür uns das Recht Instrumente zur Verfügung stellt.»

Peter Dörflinger
KESB Präsident Appenzell Ausserhoden, Jurist

Thomas Knill, Sozialarbeiter, Dozent für Soziale Arbeit an der OST-Ostschweizer Fachhochschule und ehemaliger Berufsbeistand, sagt, dass die KESB auch bei den Studierenden der Sozialen Arbeit als «stark rechtlicher Bereich» wahrgenommen werde, was bei einigen Misstrauen auslöse. In der Ausbildung versuche man aber aufzuzeigen, dass das Recht mehr sei als eine Ansammlung von Gesetzesartikeln. Vielmehr wird verdeutlicht, dass das Recht den Alltag von Menschen durchdringe und deshalb rechtliches Wissen unabdingbar sein, um kluge Lösungen zu finden. Die grosse Kompetenz der Sozialen Arbeit innerhalb der KESB sei es, so Knill, Menschen, die in eine Krise geraten, die nötige Unterstützung zu geben. «Das ist sozial-diagnostisch und methodisch eine anspruchsvolle Aufgabe.» Darin beständen die zentralen Stärken der Sozialen Arbeit, die sich hier von den juristischen oder psychologischen Kompetenzen abgrenzten.

«Das ist sozial-diagnostisch und methodisch eine anspruchsvolle Aufgabe.»

Tom Knill
Sozialarbeiter und Dozent, Departement Soziale Arbeit, ISAL/ZEN, ehem. Berufsbeistand

Wissenschaftliche Untersuchung

Auch die Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Thema KESB und Leitdisziplin. Silke Müller-Hermann ist Professorin und Dozentin am Institut Professionsforschung und -entwicklung an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Zusammen mit zwei Kollegen hat sie eine Studie durchgeführt, die sich unter anderem damit befasst, wie es den KESB gelingt, dem Entscheid des Gesetzgebers zur Professionalisierung gerecht zu werden und inwiefern die unterschiedlichen Wissensbestände und Kompetenzen in der Fallbearbeitung zur Geltung kommen. Die Datenerhebung erfolgte in der Zeit von 2015 bis 2017 und auf unterschiedlichen Ebenen.

«Vielfach ist es so, dass die Fälle alphabetisch vergeben werden.»

Prof. Dr. Silke Müller- Herrmann
Dozentin am Institut Professionsforschung und -entwicklung an der FHNW 

«Unsere Untersuchung hat ergeben, dass es unterschiedliche Deutungen der Zusammenarbeit von Professionen sowie unterschiedlich gelebte Praxen gibt», sagt sie. Die einen sprächen von Multi-, die anderen von Inter- oder Transdisziplinarität. Gleichzeitig träfen unterschiedliche Denk- und Arbeitsweisen aufeinander. Doch das Bestreben, etwas Gemeinsames zu erarbeiten, sei vorhanden. «In unserem Sample gab es keine fallspezifische Nutzung von disziplinärer Expertise innerhalb des Spruchkörpers», sagt Müller-Hermann. Die idealtypische Vorstellung, dass je nach Fallproblem eine bestimmte Expertise fallführend sei, hätten sie – im Gegensatz zu anderen Studien – nicht gefunden. «Vielfach ist es so, dass die Fälle alphabetisch vergeben werden.»

Auf die Fachlichkeit kommt es an

Ob es eine Leitdisziplin braucht oder nicht, hat sich Simona Schawalder, Vizepräsidentin der KESB Rheintal und Juristin, nie wirklich überlegt. «Vielleicht, weil ich das Glück und Privileg habe, in einem respekt- und vertrauensvollen Umfeld zu arbeiten, in dem sich diese Frage nie gestellt hat», sagt sie. Schawalder sieht es als wichtige Leitungsaufgabe an, ein Verständnis für interdisziplinäre Zusammenarbeit zu schaffen und letztlich auch regulierend einzugreifen. Worauf es ihrer Meinung nach ankommt, ist die Fachlichkeit jedes einzelnen Behördenmitglieds sowie ein klares Rollenverständnis. «Für mich als Juristin ist es durchaus auch entlastend, auf die Fachexpertise der Kolleginnen und Kollegen zurückzugreifen», so die KESB-Vizepräsidentin. Selbstverständlich entwickle sich im Laufe der Zeit eine Art Transdisziplinarität, das gehöre aber zur Weiterentwicklung der Behörde dazu.

«Für mich als Juristin ist es durchaus auch entlastend, auf die Fachexpertise der Kolleginnen und Kollegen zurückzugreifen.»

Simona Schawalder
KESB Vizepräsidentin Rheintal, Juristin 

Für Fredy Morgenthaler, Coach, Supervisor, Organisationsberater BSO und Kursleiter an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, wer in der Behörde der/die Sozialarbeiter/-in ist und wer die Juristin oder der Jurist. Es gebe auf beiden Seiten solche, die mit dem Wissen des jeweils anderen überzeugen wollten, sagt er. «Ich erachte es aber als unglaublich wertvoll, wenn in einer Behörde interprofessionell gedacht, gehandelt und entschieden wird. Und dies möglichst auf allen Stufen des KESB-Verfahrens.» Es gebe aber die Tendenz, dass Juristinnen und Jurist eher in Massnahmen dachten. «Hier würde ich mir etwas mehr Fallverständnis wünschen. Dies könnten sie von den Sozialarbeitenden lernen.» Die wiederum könnten sich bezüglich präziser Sprache und klarer Ausdrucksweise eine Scheibe von den Juristinnen und Juristen abschneiden. «Das zeigt, dass es beide braucht.»

«Ich erachte es aber als unglaublich wertvoll, wenn in einer Behörde interprofessionell gedacht, gehandelt und entschieden wird. Und dies möglichst auf allen Stufen des KESB-Verfahrens.»

Fredy Morgenthaler
Coach / Supervisor / Organisationsberater BSO und Kursleiter an der OST

Das Fazit der Wissenschaft ist ebenfalls klar: «Es braucht keine Leitdisziplin», sagt Silke Müller-Hermann. «Die Juristinnen und Juristen geben den Rahmen, die gegenstandsbezogene Expertise der Sozialen Arbeit ist im Spruchkörper bedeutsam.» Die Professorin Praxisentwicklung und Implementierungsforschung merkt jedoch an, dass eine kritische Reflexion des eigenen professionellen Selbstverständnisses bei allen Beteiligten nie schaden könne.

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Community-Anlass des Kindes- und Erwachsenenschutzes, der zum Thema «Soziale Arbeit versus Recht: Braucht die KESB eine Leitdisziplin?» stattfand.

CAS Kindes- und Erwachsenenschutz

In der Praxis sehen sich Mitarbeitende des Kindes- und Erwachsenenschutzes nebst herausfordernden Situationen und komplexen Fragestellungen auch mit divergierenden Erwartungen aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen konfrontiert. Der CAS Kindes- und Erwachsenenschutz vermittelt hilfreiche Kompetenzen, um mit diesen Spannungsfeldern umzugehen.