«Es ist nicht unprofessionell, von der eigenen Erfahrung zu erzählen»

16. Februar 2023

Sie unterrichten aus eigener Erfahrung: Helen Schneider und Melina Wälle sind Dozentinnen für psychische Gesundheit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, einst waren sie selbst Patientinnen in einer Psychiatrie. Was sie als «Peers» den Studierenden besonders gut vermitteln können, wie sie über ihre eigenen Krisen sprechen und auf was sie im Zertifikatskurs Personzentrierte psychische Gesundheit fokussieren wollen, erzählen sie im Interview.

Interview:

Ihr seid beide «Zertifizierte Peers». Was bedeutet das und wie sieht eure Arbeit aus?

Melina: Ein Peer ist eine Person, die selbst Erfahrungen mit einer psychischen Krise hat. Damit man ein «Zertifizierter Peer» wird, macht man eine Peer-Weiterbildung. In dieser reflektiert man die eigene Geschichte, arbeitet damit und lernt, seine Erfahrungen weiterzugeben, ohne dabei destabilisiert zu werden. Dies setzt voraus, dass man zu einem gewissen Grad eine stabile Phase im Genesungsprozess erreicht hat, gute Selbstfürsorge pflegt und sich selbst gut kennt. Als Peer arbeitet man vor allem direkt mit den Patientinnen und Patienten, weil man diesen auf Augenhöhe begegnen kann und versteht, was sie durchmachen.

Helen: Eine Beschreibung für Peers, die mir gut gefällt, ist Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträger. Wir erhalten oft die Rückmeldung, dass wir den Patientinnen und Patienten Hoffnung und Mut für ihre Genesung geben, da wir selbst Beispiele dafür sind, dass man es aus einer psychischen Krise schaffen kann.

«Im Gegensatz zu früher ist es heute kein Tabu mehr, über die eigenen Erfahrungen mit den Patientinnen und Patienten zu sprechen.»

Melina Wälle
Zertifizierte Peer/Dozentin psychische Gesundheit an der
OST – Ostschweizer Fachhochschule

Was könnt ihr den Studierenden besonders gut vermitteln, weil ihr schon solche Krisen durchgemacht habt?

Melina: Mir ist es wichtig, den Studierenden vermitteln zu können, dass sie ihren Patientinnen und Patienten auf Augenhöhe begegnen sollten. Wie die Pflegefachpersonen selbst sind ihre Patientinnen und Patienten auch einfach Menschen mit Gefühlen und Erlebnissen. Als pflegende Person darf man transparent sein und auch von eigenen Erfahrungen berichten. Im Gegensatz zu früher ist das heute kein Tabu mehr. Es stellt den Kontakt und die Bindung zur Patientin oder zum Patienten her.

Helen: Da stimme ich zu. Als Pflegefachperson ist die Beziehung zur Patientin oder zum Patienten das Wichtigste, dafür braucht es unter anderem Authentizität. Es ist nicht unprofessionell, von eigenen Erfahrungen oder zum Beispiel von der Mutter mit Depressionen zu erzählen. Meine Tochter arbeitet in einer Psychiatrie und sie darf meine Erfahrungen offen mit ihren Patientinnen und Patienten teilen.

Welche Erfahrungen nehmt ihr von eurer Arbeit als Peers in Psychiatrien mit in den Unterricht?

Helen: Psychiatrien sind in ihren Strukturen teils festgefahren, was es für Peers schwierig macht, dort zu arbeiten. Die Studierenden sollten sich in ihrer Arbeit getrauen, die alten Strukturen im Gesundheitswesen zu hinterfragen und zu durchbrechen. Wir möchten den Studierenden die Haltung mitgeben, dass Peers nicht nur ehemalige Patientinnen und Patienten sind und dass es auch andere Wege für die Genesung gibt, als es die bestehenden Strukturen zulassen.

Braucht es als Dozentin nicht eine gewisse Distanz zur Materie, damit man nicht zu fest von den Erfahrungen der Patientinnen und Patienten auf die eigenen schliesst?

Melina: In der Peer-Weiterbildung setzt man sich nicht nur intensiv mit der eigenen, aber auch mit den Geschichten aller anderen in der Weiterbildung auseinander. Jede und jeder hat eine andere Erfahrung durchgemacht, eine andere Diagnose erhalten. In der Peer-Weiterbildung haben wir durch das Erzählte ein Gesamtbild erhalten und sind vom «Ich-Wissen» zum «Wir-Wissen» gekommen. Im Unterricht legen wir den Fokus nicht auf unsere eigene Diagnose, sondern auf die Erfahrung, die wir in der Psychiatrie und durch die Peer-Arbeit mit Patientinnen und Patienten gesammelt haben.

«Die Studierenden sollten sich in ihrer Arbeit getrauen, die alten Strukturen im Gesundheitswesen zu hinterfragen und zu durchbrechen.»

Helen Schneider
Zertifizierte Peer/Dozentin psychische Gesundheit an der
OST – Ostschweizer Fachhochschule

Welchen Herausforderungen begegnet ihr beim Unterrichten?

Helen: Je nachdem, wie es mir psychisch geht, ist es manchmal herausfordernd. Ich hole immer wieder meine Geschichte hervor, es geht immer wieder um meinen Leidensweg. Manchmal ist es schwierig, mich immer wieder damit auseinanderzusetzen. Über die Jahre habe ich aber gute Selbstfürsorge gelernt. Mein Hund und meine Familie spielen dabei eine grosse Rolle.

Melina: Ich habe auch schon erlebt, dass Studierende im Unterricht in Tränen ausgebrochen sind, weil unsere Erfahrungen etwas in ihnen ausgelöst haben. Vor jedem Unterricht muss ich mir daher überlegen, was ich den Studierenden zumuten kann und mir selbst. Es ist wichtig, immer zu wissen, wie viel man von der eigenen Geschichte preisgeben möchte und wo man die Grenzen setzt, um sich selbst zu schützen.

Der CAS Personzentrierte psychische Gesundheit startet im Oktober. Auf was wollt ihr in euren Modulen fokussieren? Was sollen die Studierenden von euch mitnehmen?

Helen: Selbstreflexion – das ist mir wichtig. Die Studierenden sollen lernen, ihr Handeln und Denken zu reflektieren. Zum Beispiel in Bezug auf Stigmatisierung, die ganz subtil stattfinden kann. In ihrer eigenen Arbeit sollten sie beobachten, wann und wie sie sich selbst oder ihre Patientinnen und Patienten stigmatisieren.

Melina: Da schliesse ich mich an. Wichtig finde ich auch, dass die Bereitschaft der Studierenden da ist, die eigene psychische Gesundheit zu reflektieren und darüber intensiv nachzudenken. Darum wollen wir die Studierenden aktiv in den Unterricht miteinbeziehen mit Gruppenarbeiten, Selbstreflexion und Fallbeispielen.

CAS Personzentrierte psychische Gesundheit

Soziale, psychologische und biologische Faktoren bestimmen den Grad der psychischen Gesundheit im Leben eines Menschen. Der CAS Personzentrierte psychische Gesundheit vermittelt Fachkräften die erforderlichen Kompetenzen, um die Lebenssituation von Personen mit psychischen Belastungen professionell einzuschätzen und geeignete Interventionen anzubieten.

Melina und Helen bauen momentan mit der OST, dem Kanton St. Gallen und EX-IN-Schweiz eine «Peerberatung in St. Gallen» auf. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.