Wer bin ich und was will ich?

1. Juni 2023

Die Moderne hat das traditionelle Zeitalter abgelöst. Charakteristisch dafür ist unter anderem die Vielfalt an Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Kehrseite der Medaille: Es wird zunehmend schwieriger, sich für passende Optionen zu entscheiden. Auch die Identitätsfrage drängt immer mehr in den Vordergrund und kann insbesondere junge Menschen überfordern. Wie gelingt angesichts dieser Herausforderungen die Suche nach dem Sinn?

«Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können.» So beschreibt der deutsche Philosoph Jürgen Habermas die Moderne und ihren Einfluss auf den Menschen. Die Moderne unterscheidet sich wesentlich vom traditionellen Zeitalter. In Letzterem gab es für sämtliche Lebensbereiche Vorgaben: sei es bezüglich Beziehungspflege, Religion oder Ernährung. «Diese alte Zeit war wie ein Rahmen, in den man sich einzupassen hatte, um sich die soziale Zugehörigkeit zu sichern», sagt Bernhard Gut, Studienleiter des MAS in Psychosozialer Beratung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule.  «In der Moderne existiert dieser Rahmen praktisch nicht mehr. Es geht nicht mehr um Anpassung, sondern darum, die Fülle an Möglichkeiten zur eigenen Zufriedenheit zu nutzen.»

Dekonstruktion von Geschlechterrollen und Bildungsdruck

Nebst dem Aspekt der Multioptionalität ist die Moderne – oft auch Postmoderne genannt – von Pluralismus und Individualismus gekennzeichnet. Während es früher galt, nach einer bestimmten Form zu leben, haben heute verschiedene Lebensentwürfe ihre Berechtigung. Das zeigt sich unter anderem in alternativen Familienmodellen wie der Patchwork-Familie.

 Ein weiteres Merkmal der Moderne ist die Dekonstruktion von Geschlechterrollen. Die einst klaren Zuschreibungen, was Aufgabe von Männern und was Aufgabe von Frauen ist, verschwinden allmählich. Auch der Bildungsbereich hat sich verändert. So besteht ein gewisser Druck, sich fortlaufend weiterzubilden und zu qualifizieren. «In jungen Jahren eine Ausbildung zu machen und anschliessend 40 Jahre lang auf dem erlernten Beruf zu arbeiten, reicht oft nicht mehr aus», sagt Bernhard Gut.  

«Die alte Zeit war wie ein Rahmen, in den man sich einzupassen hatte, um sich die soziale Zugehörigkeit zu sichern. In der Moderne existiert dieser Rahmen praktisch nicht mehr.»

Bernhard Gut
Studieneiter MAS in Psychosozialer Beratung

Der Moderne wurde schon oft ein Werteverlust zugeschrieben. «Tatsächlich ist es aber ein Wertewandel, der stattfindet», sagt Gut. Veranschaulichen lässt sich dies etwa am Beispiel der Arbeit. Durch Individualisierungstendenzen, Diskussion und Reflexion sowie neue Lebensstile und Arbeitswelten gewinnen Selbstverwirklichung, Eigenverantwortlichkeit, aber auch Flexibilität und Work-Life-Balance an Bedeutung. Derweil verlieren Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Gehorsam, Loyalität und Karriereorientierung an Priorität. 

Fehlende Identitätsschablonen

Einerseits bringt die Moderne viele positive Errungenschaften mit sich, andererseits aber auch neue Herausforderungen. «Wir müssen zum Beispiel aus einer Vielzahl an Wahlmöglichkeiten diejenigen auswählen, die zu uns passen», so Bernhard Gut. Damit sei es schwieriger geworden, Entscheidungen zu treffen. Die Pluralisierung wiederum gehe mit fehlenden Identitätsschablonen einher. Die Frage «wer will ich sein?» gewinne an Bedeutung. «Sie kann aber insbesondere für Jugendliche überfordernd sein», sagt der Klinische Psychologe und Gesundheitspsychologe. Im traditionellen Zeitalter habe sich diese Frage durch den hohen Anpassungsdruck gar nicht erst gestellt.

Bezeichnend seien zudem die Beschleunigung und Verdichtung des Alltags. «Junge Erwachsene versuchen oft, drei Leben in eines zu verpacken, um möglichst viel zu erleben», so Gut.  Zu den Erfahrungen im heutigen Zeitalter gehöre auch die Angst, «abgehängt» zu werden. Dies führe zum Gefühl, sich ständig selbstoptimieren zu müssen.

Nicht zuletzt finde auch eine Erosion des Sozialen statt, sagt Bernhard Gut. Die Verantwortlichkeit füreinander sei heute nicht mehr gleich ausgeprägt wie früher. Eine Folge davon: Vereinsamung.  

Auch Mobilität, Digitalisierung und Globalisierung haben ihre Sonnen- und Schattenseiten. Einerseits ermöglichen sie Reisen, Geschäftsbeziehungen oder auch den virtuellen Austausch rund um den Erdball. Andererseits können sich dadurch Ereignisse, die weit weg stattfinden, negativ auf unser Leben auswirken.

Die Moderne erfordert neue Kompetenzen wie beispielsweise Entscheidungskompetenz. Auch Identitätsarbeit wird immer wichtiger. Unterstützend wirkt hierbei die kontinuierliche Reflexion – auch durch die Rückmeldung anderer. Nicht zuletzt spielt die Kompetenz im Umgang mit dem Scheitern eine zentrale Rolle. Denn wir beginnen im Leben viel mehr Dinge, als wir tatsächlich abschliessen können. Ebenfalls wichtig ist das Bewusstsein über eigene Werte.

Sinnhaftigkeit erleben

Wie ist Sinnfindung und Zustimmung zum eigenen Lebensentwurf in der heutigen Zeit möglich? Nach wie vor Orientierung bietet in diesem Zusammenhang das Konzept der Kohärenz von Aaron Antonovsky. Kohärenz setzt sich gemäss dem israelisch-amerikanischen Soziologen aus drei Aspekten zusammen: der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Bedeutsamkeit. Verstehbarkeit meint die Fähigkeit, Probleme und Belastungen in einem grösseren Zusammenhang zu sehen und einzuordnen. Handhabbarkeit ist die Überzeugung, Ressourcen zur Lösung der Probleme zu besitzen und das Leben damit meistern zu können. Die Bedeutsamkeit ergibt sich dann, wenn eine Person im Leben Projekte und Ziele sieht, für die es sich zu engagieren lohnt. Wenn diese drei Faktoren gegeben sind, stellt sich ein Gefühl der Sinnhaftigkeit ein.

Ob das Leben an sich Sinn ergibt, ist eine Frage, die sich zumindest mit heutigen Sinnkonzepten nicht eindeutig beantworten lässt. Unbestritten sei aber, dass einzelne Situationen im Leben Sinn ergeben und als sinnhaft erlebt werden, sagt Bernhard Gut. Ob ein bestimmtes Erlebnis oder ein Treffen mit anderen Menschen.

MAS in Psychosozialer Beratung

Im Mittelpunkt des MAS in Psychosozialer Beratung stehen konkrete Methoden des Beratens, des Vermittelns und des Intervenierens. Die Absolventinnen und Absolventen verfügen über professionelle Beratungstools, die sie situativ in unterschiedlichen Kontexten anwenden können.