Rainer Küng ist Polizeiverhandler. Er kommt bei Erpressungen, Geiselnahmen, Bedrohungen durch bewaffnete Personen oder bei Suizidinterventionen zum Einsatz. Mit seiner Masterarbeit im MAS Psychosoziale Beratung will er der Polizei eine neue Kommunikationstechnik für Verhandlungssituationen zur Verfügung stellen. Dafür hat er sich intensiv mit dem Geschichtenerzählen auseinandergesetzt.
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Die Dargebotene Hand
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Rainer Küng, Sie sind seit 24 Jahren Polizist und Leiter der Verhandlungsgruppe der Polizei Basel-Landschaft. Was machen Sie als Polizeiverhandler?
In akuten Krisensituationen werde ich beigezogen, um Leben zu schützen. Als Polizeiverhandler ist es meine Aufgabe, in solchen Situationen zu verhandeln und diese durch Kommunikation zu lösen. Wir sind dabei in verschiedenen Einsatzfeldern tätig. Einerseits sind das Suizidinterventionen, also wenn jemand komplett verzweifelt ist und sich das Leben nehmen will. Andererseits gehören Gewalt-Eskalationen dazu, also wenn jemand zum Beispiel mit einer Waffe droht. Auch bei Erpressungen, Geiselnahmen und Entführungen sind wir als Verhandlungsgruppe im Einsatz.
In Ihrer Masterarbeit untersuchen Sie, ob Storytelling eine wirksame Methode bei polizeilichen Verhandlungen ist, insbesondere bei Suizidinterventionen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese beiden Themen miteinander zu verbinden?
Ich bin Vater von zwei kleinen Kindern und ehrenamtlicher Kindersportleiter. Wenn ich mit den Kindern unterwegs bin, erzähle ich immer gerne Geschichten. Mir ist aufgefallen, dass man dadurch einen guten Zugang zu den Kindern findet, sie hören aufmerksam zu und leben die Geschichte mit. So kam ich auf die Idee, dass es wahrscheinlich ein Stilmittel ist, das man in polizeilichen Verhandlungssituationen einsetzen kann, um die betroffenen, oft verzweifelten Menschen besser zu erreichen. Suizidinterventionen sind je nach Situation unterschiedlich, aber immer komplex und anspruchsvoll. Mit meiner Masterarbeit möchte ich den Polizeiverhandlerinnen und -verhandlern neben den bekannten Kommunikationstechniken eine weitere Methode zur Verfügung stellen, um diese schwierigen Situationen bestmöglich bewältigen zu können.
«Wenn man als Polizistin oder Polizist einer suizidgefährdeten Person mit einer passenden Geschichte helfen kann, ist das ein wunderbarer Moment in einer möglicherweise sehr tragischen Situation.»
Rainer Küng
Absolvent des MAS Psychosoziale Beratung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule
Was sind Ihre Erkenntnisse?
In meiner Masterarbeit habe ich herausgefunden, dass sich das Stilmittel des Geschichtenerzählens sehr gut für die Suizidintervention eignet. Geschichten helfen, Kontakt und Vertrauen zur suizidgefährdeten Person aufzubauen und ihre Situation besser zu verstehen. Mit einer Geschichte kann man die Person auf eine gedankliche Reise mitnehmen, zum Nachdenken anregen und hilfreiche Gefühle auslösen. Wenn man als Polizistin oder Polizist einer suizidgefährdeten Person mit einer passenden Geschichte helfen kann, ist das ein wunderbarer Moment in einer möglicherweise sehr tragischen Situation.
Gleichzeitig ist es eine schwierige Kommunikationstechnik. Die richtige Geschichte im passenden Moment zu erzählen, kann als Königsdisziplin des polizeilichen Verhandelns bezeichnet werden. Dazu braucht es fundiertes Fachwissen und Erfahrung in der Suizidintervention, innere Sicherheit und eine klare Haltung zum Thema Leben und Sterben. Zudem muss man im Geschichtenerzählen geübt sein.
Gibt es Geschichten, die sich für Suizidinterventionen besonders gut eignen?
Besonders geeignet sind Weisheitsgeschichten. Das sind kurze Geschichten, die viel Bedeutung haben und Raum zum Nachdenken und Reflektieren bieten. Auch in der Psychotherapie werden sogenannte therapeutische Geschichten verwendet. Oft sind Geschichten ähnlich aufgebaut. Es gibt eine Hauptfigur, meist die Heldin oder der Held, und diese steht vor einer unfassbar schwierigen Situation. Aber sie entschliesst sich dazu, sich ihrer Aufgabe zu stellen, und sie gewinnt. Als Geschichten können auch Erfahrungen aus dem eigenen Leben dienen. Sie müssen aber ehrlich und authentisch sein, sonst funktioniert die Suizidintervention nicht. Wir lügen nicht und spielen nichts vor, denn die Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Gut einer Polizeiverhandlerin oder eines Polizeiverhandlers.
Die Geschichten müssen ehrlich und authentisch sein, sonst funktioniert die Suizidintervention nicht. Wir lügen nicht und spielen nichts vor, denn die Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Gut einer Polizeiverhandlerin oder eines Polizeiverhandlers.
Wie kommen Sie auf Ihre Geschichten?
Wenn man sich mit dem Thema beschäftigt, wird man darauf aufmerksam. Man hört überall Geschichten und lernt Menschen kennen, die wunderbare Geschichten erzählen. Mit der Zeit hatte ich eine kleine Sammlung – sozusagen eine innere Bibliothek, auf die ich jetzt zurückgreifen kann.
Könnte es die Situation nicht verschlimmern, wenn jemand eine Geschichte nicht versteht oder diese falsch interpretiert?
Ich sehe bei dieser Methode kaum Risiken. Natürlich, wenn ich krankhaft eine Geschichte erzählen will, kommt das nicht gut an. Mein Bauchgefühl sagt mir aber, ob es passt oder nicht. Wenn ich merke, dass die Person sich nicht darauf einlassen kann oder will, komme ich gar nicht erst auf die Idee, ihr eine Geschichte zu erzählen. Ausserdem wird ein einziges Wort, ein Satz oder eine Geschichte in dieser Situation nicht dazu führen, dass sich jemand das Leben nimmt. Viel wichtiger ist die Stimmung, die man als Polizeiverhandlerin oder -verhandler vermittelt. Die Tatsache, dass sich jemand verstanden, gehört und aufgehoben fühlt, hat eine viel grössere Wirkung als das, was man sagt.
Sie möchten die Methode des Geschichtenerzählens in den Verhandlungsgruppen der Polizei verbreiten, um ihnen eine weitere Kommunikationstechnik zur Verfügung zu stellen. Wie wollen Sie das erreichen?
Ich bin an praktisch allen Aus- und Weiterbildungskursen für Polizeiverhandlerinnen und -verhandler in der Schweiz beteiligt. Im Moment arbeite ich an einer Lektion über das Geschichtenerzählen für den letzten Kurs der Ausbildung, an dem die erfahrenen Verhandlerinnen und Verhandler teilnehmen. Meine Masterarbeit konnte ich auch bereits ins Ausland schicken. Ziel dieser Arbeit und dieser neuen Methode ist es, dass alle Verhandlerinnen und Verhandler im deutschsprachigen Raum davon profitieren können. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass dieses Wissen und die Erfahrungen geteilt werden. Daher war auch der MAS Psychosoziale Beratung für mich besonders wertvoll: Die interdisziplinären Ansätze und die facettenreichen Diskussionen haben mich gelehrt, dass der Blick über den Tellerrand der eigenen Profession hinweg sehr bereichernd ist.
MAS Psychosoziale Beratung
Wir leben in einer Beratungsgesellschaft. Entsprechendes Know-how ist in unterschiedlichen Branchen und Tätigkeitsfeldern von zunehmender Bedeutung. Im MAS Psychosoziale Beratung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule erweitern die Teilnehmenden ihre Kenntnisse und Kompetenzen bezüglich des Erfolgsdreiecks der psychosozialen Beratung: Beratung, Vermittlung und Intervention.