Ein Todesfall, eine chronische Krankheit, ein Jobverlust oder eine Trennung – Schicksalsschläge, die einen tiefen Einschnitt ins Leben bedeuten. Sie alle sind unveränderbar. Umso herausfordernder ist dieses Thema für Fachpersonen, die Menschen in solchen Situationen beraten. Die diplomierte Pflegefachfrau Anja Weber hat sich deshalb in ihrer Masterarbeit im MAS Psychosoziale Beratung mit dem Unveränderbaren auseinandergesetzt.
Interview:
Frau Weber, wie sind Sie auf das Thema «Umgang mit dem Unveränderbaren» gekommen?
Anja Weber: Das Thema beschäftigt mich in meiner täglichen Arbeit schon lange. Viele meiner Klientinnen und Klienten der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) haben chronische psychische Beeinträchtigungen. In den Einzel- und Gruppengesprächen, die ich mit ihnen führe, kommt das Unveränderbare immer wieder zur Sprache.
Weshalb?
Viele Menschen mit einer chronischen psychischen Beeinträchtigung haben Schwierigkeiten, ihre Situation zu akzeptieren, weil sie sich nicht ändern lässt. Oft versuchen sie dann, das Unveränderbare zu ändern. Dies führt dazu, dass sie über längere Zeit in der gleichen Situation verharren. Das kann bei der Beratungsperson zu Frustration und Resignation führen. Das Ziel meiner Arbeit war es, aus dieser Hilflosigkeit in der Beratungssituation herauszukommen. Ich wollte wissen, wie ich als Beraterin damit umgehen kann, dass Menschen aus unveränderbaren Situationen nicht herausfinden.
«Wer mit dem Unveränderbaren konfrontiert wird, hat ein enormes Wachstumspotenzial. Man wird herausgefordert, neue Wege zu gehen, die man ohne die Krise nie hätte gehen können. Eine Krise oder etwas Unveränderbares ist ein Brandbeschleuniger für die persönliche Entwicklung.»
Anja Weber
Absolventin des MAS Psychosoziale Beratung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule
Haben Sie dieses Ziel erreicht?
Die Haupterkenntnis meiner Masterarbeit möchte ich mit einem Zitat von Laotse aus dem 6. Jahrhundert zusammenfassen: «Was die Raupe Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt Schmetterling». Ich finde, dass dieses Zitat ein schönes Bild zeichnet: Wer mit dem Unveränderbaren konfrontiert wird, hat ein enormes Wachstumspotenzial. Man wird herausgefordert, neue Wege zu gehen, die man ohne die Krise nie hätte gehen können. Eine Krise oder etwas Unveränderbares ist ein Brandbeschleuniger für die persönliche Entwicklung. Aber die Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling setzt die Bereitschaft voraus, sich auf einen Prozess einzulassen und sich zu verändern. Für mich als Beraterin ist es spannend, diese Entwicklung bei meinen Klientinnen und Klienten zu verfolgen.
In Ihrer Arbeit schreiben Sie: «Verändern lässt sich nur der Umgang mit dem Unveränderbaren». Was meinen Sie damit?
Den Umgang mit dem Unveränderbaren zu verändern bedeutet, die Perspektive zu wechseln – vom «Warum» zum «Wozu». Das nennt man «Reframing», also der gleichen Situation eine neue Bedeutung zu geben. Meine Klientinnen und Klienten stellen sich immer wieder die gleichen Fragen: Warum ihnen etwas passiert ist und warum sich etwas nicht verändern lässt. In der Beratung versuche ich, den Menschen immer wieder zu zeigen, dass diese Warum-Fragen zu Beginn des Prozesses ihre Berechtigung haben, dass sie aber nicht dort stecken bleiben dürfen. Sonst sind sie der Situation ausgeliefert und kommen nie zum «Wozu». Das «Wozu» ist der Schritt, bei dem die Klientinnen und Klienten akzeptieren, dass es eine schwierige Situation ist, die sie sich nicht ausgesucht haben. Trotzdem finden sie einen Sinn darin und können die Situation sogar positiv für ihr Leben nutzen.
Einen Sinn in unveränderbaren Schicksalsschlägen zu finden, klingt schwierig.
Das ist es auch. Aber es gibt einige Strategien, um damit umzugehen. Ich mache meinen Klientinnen und Klienten klar, dass der Schmerz umso grösser wird, je länger sie in der Situation verharren. Das motiviert sie oft, den nächsten Schritt im Trauerprozess zu machen. Dies erfordert aber auch viel Empathie und Geduld seitens der Fachperson. In der Beratung muss man ein Ziel vor Augen haben, aber man muss auch den Weg dorthin sehen. Das bedeutet auch, die kleinen Schritte im Prozess mit dem Unveränderbaren zu würdigen. Die Klientin oder der Klient muss dort abgeholt werden, wo der Leidensdruck am grössten ist. Wichtig ist auch die Ermutigung. Dies ist eine Grundhaltung, die auf einer vertrauensvollen therapeutischen oder beraterischen Beziehung basiert.
Durch meine Masterarbeit habe ich in meinem Beruf einen wirklichen Wandel durchgemacht und konnte meine Rolle neu definieren. Ich konnte mich von dem Druck befreien, die Lebenssituation anderer Menschen aktiv verändern zu müssen.
Welche anderen Strategien geben Sie Ihren Klientinnen und Klienten mit auf den Weg, um mit dem Unveränderbaren umzugehen?
Eine weitere Strategie ist zum Beispiel die radikale Akzeptanz. Dabei geht es darum, zu akzeptieren, dass man nur den gegenwärtigen Moment kontrollieren kann. Die Vergangenheit ist nicht veränderbar. Die Zukunft kann beeinflusst, aber nicht kontrolliert werden. Dazu gehören auch positive Affirmationen. Diese erarbeite ich mit den Klientinnen und Klienten in der Beratung oder sie überlegen sich zu Hause, welche positiven Sätze sie sich selbst sagen können, um aus der Hilflosigkeit herauszukommen. Wir finden gemeinsam heraus, welche Ressourcen die Klientinnen und Klienten durch die Krise vielleicht verloren haben. Das können Hobbys sein oder soziale Kontakte, die wieder gestärkt werden können.
Was sind Ihre eigenen Strategien, um in der Beratung mit dem Unveränderbaren umzugehen?
Ich habe mich vom Anspruch losgelöst, dass ich die Probleme meiner Klientinnen und Klienten lösen muss. Das hilft mir, mich abzugrenzen. Ich bin bereit, mit meinen Klientinnen und Klienten einen Weg zu gehen und auch kleine Schritte zu machen, aber sie bestimmen, wo es lang geht. So erschöpft mich die Arbeit nicht. Das spiegele ich meinen Klientinnen und Klienten auch ganz ehrlich wider. Schliesslich kann ich in der Beratung nichts erzwingen.
Welche Erkenntnisse aus Ihrer Masterarbeit nehmen Sie mit in Ihren Berufsalltag?
Durch meine Masterarbeit habe ich in meinem Beruf einen wirklichen Wandel durchgemacht und konnte meine Rolle neu definieren. Früher hatte ich das bekannte «Helferinnen-Syndrom». Meine Masterarbeit hat mir einen Weg gezeigt, mich davon zu verabschieden. Ich konnte mich von dem Druck befreien, die Lebenssituation anderer Menschen aktiv verändern zu müssen. Letztlich geht es in meiner Rolle darum, die richtigen Fragen zu stellen. Wenn ich früher in der Beratung gehört habe «Das bringt eh nichts», hat mich das immer angespornt, noch mehr zu tun. Ich habe gemerkt, dass das der falsche Ansatz ist. Die Klientin oder der Klient muss von sich aus etwas verändern wollen. Heute versuche ich aktiv, die Klientinnen und Klienten aus ihrer passiven Haltung herauszuholen und mit Fragen herauszuarbeiten, was ihnen helfen könnte, diesen Perspektivenwechsel zu vollziehen.
MAS Psychosoziale Beratung
Wir leben in einer Beratungsgesellschaft. Entsprechendes Knowhow ist in unterschiedlichen Branchen und Tätigkeitsfeldern von zunehmender Bedeutung. Im MAS Psychosoziale Beratung erweitern die Teilnehmenden ihre Kenntnisse und Kompetenzen bezüglich dem Erfolgsdreieck der psychosozialen Beratung: Beratung, Vermittlung und Intervention.