Studien zeigen immer deutlicher: Wer sich regelmässig bewegt, hat nicht nur ein geringeres Risiko für Herzkreislauferkrankungen, sondern erkrankt auch seltener an einer Depression oder Angststörung. Bei der Behandlung dieser psychischen Erkrankungen erweist sich körperliche Aktivität ebenfalls als wirksam. In diesem Zusammenhang hat unter anderem die Kombination von motorischem Training mit kognitiv anspruchsvollen Aufgaben an Aufmerksamkeit gewonnen. Anne Kelso und Martina Betschart leiten den CAS Motorisch-kognitives Training in Sport und Rehabilitation an der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Im Interview sprechen sie über neue wissenschaftliche Erkenntnisse und über Hürden in der Praxis.
Bewegung wird in erster Linie mit körperlicher Fitness in Verbindung gebracht. Aber welchen Einfluss hat sie auf die Psyche?
Anne Kelso: Körperliche Aktivität hat einen grossen Einfluss auf unser psychisches Wohlbefinden. Sie hilft nicht nur bei der Behandlung, sondern auch bei der Vorbeugung psychischer Erkrankungen. Dieser schützende Effekt ist insbesondere bei Depressionen und Angststörungen gut erforscht. Damit er sich entfalten kann, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Erwachsenen, sich mindestens 150 bis 300 Minuten pro Woche mit moderater Intensität oder 75 bis150 Minuten mit intensiver Intensität zu bewegen. Eine moderate Aktivität ist zum Beispiel zügiges Gehen. Intensiv wäre beispielsweise Joggen.
«Körperliche Aktivität hilft nicht nur bei der Behandlung, sondern auch bei der Vorbeugung psychischer Erkrankungen. Dieser schützende Effekt ist insbesondere bei Depressionen und Angststörungen gut erforscht.»
Dr. Anne Kelso
Kursleiterin CAS Motorisch-kognitives Training in Sport und Rehabilitation
Macht es einen Unterschied, welche Sport- und Bewegungsarten man ausführt?
Martina Betschart: Alle Trainingsformen wirken sich positiv aus, ob Yoga oder Kraftübungen. Aber auch die Bewegung im Alltag – zum Beispiel die Bewältigung des Arbeitsweges mit dem Velo statt mit dem Auto – scheint vorteilhaft zu sein. Wichtig ist, in welchem Rahmen wir uns bewegen. Eine kürzlich publizierte Studie hat gezeigt, dass körperliche Aktivität, die während der Arbeit oder im Haushalt geleistet wird, das Risiko für psychische Erkrankungen nicht unbedingt senkt. Bewegung, die in Form von Freizeitaktivitäten oder im Rahmen unseres Mobilitätsverhaltens stattfindet, ist also besser für die Gesundheit.
Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hat es in den letzten Jahren zur Wechselwirkung zwischen körperlicher Aktivität und Psyche gegeben?
Martina Betschart: Verschiedene neuere Studien haben die Erkenntnis verdichtet, dass die Intensität der Bewegung ein entscheidender Faktor ist. Je intensiver man sich körperlich betätigt, desto höher ist der positive Effekt für Körper und Psyche. Das hat unter anderem damit zu tun, dass bestimmte Botenstoffe, die für das Immunsystem und das Nervensystem wichtig sind, erst bei einer bestimmten Intensität ausgeschüttet werden. In den letzten Jahren ist deshalb das High Intensity Intervall Training (HIIT) zunehmend in den Fokus gerückt.
«Je intensiver man sich körperlich betätigt, desto höher ist der positive Effekt für Körper und Psyche. Das hat unter anderem damit zu tun, dass bestimmte Botenstoffe, die für das Immunsystem und das Nervensystem wichtig sind, erst bei einer bestimmten Intensität ausgeschüttet werden.»
Dr. Martina Betschart
Kursleiterin CAS Motorisch-kognitives Training in Sport und Rehabilitation
Anne Kelso: Auch die Kombination von motorischem Training mit kognitiv anspruchsvollen Aufgaben hat an Aufmerksamkeit gewonnen. Dieser Ansatz wird derzeit verstärkt erforscht – unter anderem im Zusammenhang mit Depressionen. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass motorisch-kognitives Training das Potenzial hat, depressive Symptome zu reduzieren. Eine Form des motorisch-kognitiven Trainings sind aktive Videospiele, sogenannte Exergames. Aber auch analoge Aktivitäten, die Bewegung mit kognitiven Elementen verbinden, können genutzt werden.
Martina Betschart: Motorisch-kognitives Training ist aber auch nah an unserem Alltag, weil unsere täglichen Aktivitäten stetig ein enges Zusammenspiel zwischen motorischen Fähigkeiten und kognitiven Prozessen erfordern. Zum Beispiel unterhalten wir uns, während wir gehen oder weichen bewusst Hindernissen aus. Wir lesen oder telefonieren, während wir im Bus das Gleichgewicht halten.
Welche Bedeutung hat die körperliche Aktivität in der Praxis als Therapiemassnahme? Zum Beispiel bei der Behandlung von Depressionen?
Anne Kelso: Körperliche Aktivität wird derzeit nicht priorisiert. Dies trotz konkreter Empfehlungen aus Studien und Metaanalysen und obwohl es Hinweise gibt, dass körperliche Aktivität ähnliche Effekte haben kann wie Psychopharmaka und Psychotherapie.
Martina Betschart: Die Situation ist wirklich paradox. Es gibt mittlerweile eine solide Datenlage, aber die Praxis lebt dieses Wissen nicht vor.
Wo liegen die Hürden?
Anne Kelso: Bis neue Erkenntnisse von der Praxis aufgenommen werden, dauert es oft eine gewisse Zeit. Eine Herausforderung ist aber auch, dass verschiedene Disziplinen involviert sind, die unterschiedliche Herangehensweisen haben. So kommen je nach Fachexpertise eher pharmazeutische Behandlungsmethoden zum Tragen.
Martina Betschart: Sich körperlich mehr oder anders zu bewegen, erfordert eine Verhaltensänderung. Wie auch aus Studien hervorgeht, scheint dies oft herausfordernder zu sein als der Griff zum Medikament. Dies gilt sowohl für Betroffene als auch für die Fachpersonen, die diese betreuen.
Wie viel körperliche Aktivität braucht es denn, um zum Beispiel die Symptome einer Depression zu lindern?
Anne Kelso: Zusätzlich zur Standardbehandlung von Depression wird bei einer Trainingsintervention empfohlen, drei Mal in der Woche ca. 45 Minuten zu trainieren. Auf jeden Fall sollte ein strukturiertes Training stattfinden – sowohl bei einer Depression als auch bei einer Angststörung. Um die Patientinnen und Patienten auch dazu zu animieren, sich insgesamt mehr zu bewegen, muss man ihren Lebensstil mitberücksichtigen. Es gilt herauszufinden, wie sich ungesunde Muster reduzieren lassen und gesunde Verhaltensweisen im Alltag integriert werden können.
Sie beide leiten den CAS Motorisch-kognitives Training in Sport und Rehabilitation an der OST. Die Teilnehmenden lernen unter anderem evidenzbasierte Trainingsmassnahmen zu planen, zu implementieren und zu evaluieren. Wo ist dieses Know-how gefragt und was können die Absolventinnen und Absolventen bewirken?
Martina Betschart: Dieses Wissen ist in vielen Bereichen gefragt. Ob in der Physiotherapie, in der Psychiatrie oder in der Rehabilitationsmedizin. Die Teilnehmenden des CAS lernen konkrete Behandlungsstrategien kennen, die sie in ihre Berufspraxis einbringen können. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass sie im Kleinen aufzeigen, das motorisch-kognitives Training wirkt und dieses so nach und nach in ihrer Institution implementieren.
Anne Kelso: Die Teilnehmenden werden befähigt, Forschungserkenntnisse in Konzepte zu überführen, die sie in ihrem Praxisalltag umsetzen können.
Welchen Tipp würden Sie jeder und jedem punkto Bewegung mit auf den Weg geben, um Körper und Psyche zu stärken?
Anne Kelso: Wichtig ist, für sich das Richtige zu finden. Etwas, das einem Spass macht und bei dem man längerfristig dranbleibt. Es hilft bereits, alltägliche Dinge aktiver zu gestalten. Beispielsweise Treppen zu steigen, statt den Lift zu nehmen oder mit dem Velo statt mit dem Auto zur Arbeit zu fahren.
Martina Betschart: Die Kunst ist, die gesunde Routine auch in stressigen Zeiten beizubehalten. Man verbringt dann den Abend lieber vor dem Fernseher, statt wie geplant ins Training zu gehen oder einen Spaziergang zu machen. Dieses Schonverhalten ist Gift. Entscheidend ist, immer in Bewegung zu bleiben.
CAS Motorisch-kognitives Training in Sport und Rehabilitation
Körperliche Aktivität und Training bieten ein enormes Potenzial in der Prävention und Rehabilitation von körperlichen und psychischen Erkrankungen. Im CAS Motorisch-kognitives Training in Sport und Rehabilitation lernen die Teilnehmenden, evidenzbasierte Trainingsmassnahmen zu planen, zu implementieren und zu evaluieren. Die Zusammenhänge zwischen körperlicher Aktivität und psychischer Gesundheit bilden einen Aspekt unter den Studieninhalten. Als Referent für diesen Bereich konnte unter anderem Christian Imboden, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie & Präsident Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP), gewonnen werden.