Wenn die Sprache fehlt: Betroffenen zu Wort verhelfen

22. Mai 2025

Sprache ist die Grundlage für nahezu alles. Sie dient nicht nur der Verständigung, sondern ist auch ein Ventil für unser Seelenleben. Zudem befähigt sie uns, mit anderen in Kontakt zu treten, Einfluss auf unsere Umwelt zu nehmen und diese mitzugestalten. Doch wie ist es für jene, die nicht sprechen können? In Ihrer Masterarbeit im MAS Psychosoziale Beratung hat sich Eveline Kaufmann damit auseinandergesetzt, wie es gelingt, mit den Betroffenen eine gemeinsame Sprache zu finden, sodass sie sich bestmöglich mitteilen und an der Gesellschaft teilhaben können. Einen besonderen Fokus hat sie auf die Beratung von Menschen mit fehlender Sprache gelegt. Im Interview spricht die Sozialpädagogin über die Folgen von Ohnmacht und Hilflosigkeit, über Hilfsmittel wie Bilder und Sprachcomputer und über die Bedeutung des Fragestellens.

Interview:

Zu Beginn Ihrer Masterarbeit stellen Sie die provokative Frage, ob Menschen mit fehlender Sprache überhaupt beraten werden können. Wie lautet Ihre abschliessende Antwort?

Eveline Kaufmann: Diese Frage habe ich gestellt, weil Beratung ohne Sprache auf den ersten Blick unmöglich erscheint. Selbst bei körperbetonten Therapieformen erfolgt beispielsweise zuerst eine Anamnese, was entweder mündlich oder schriftlich geschieht. Sprache spielt in der Beratung also eine enorm wichtige Rolle. Dennoch kann ich die Frage, ob man Menschen mit fehlender Sprache beraten kann, mit «Ja» beantworten. Voraussetzung ist aber, dass die Person, die berät, über Zusatzwissen im Bereich der Unterstützen Kommunikation verfügt und sich mit verschiedenen Behinderungen und Beeinträchtigungen oder auch mit Autismus-Spektrums-Störungen auskennt.

Was bedeutet «fehlende Sprache» genau und wer kann alles davon betroffen sein?

Von fehlender Sprache spricht man, wenn die Fähigkeit, in der gesprochenen Sprache, in der geschriebenen Sprache oder in der Körpersprache zu kommunizieren, stark eingeschränkt oder gar nicht vorhanden ist. Das Defizit kann angeboren sein – etwa, wenn organische Ursachen wie Hörbeeinträchtigungen oder Probleme mit der Mund- und Zungenmotorik vorliegen. Aber auch Unfälle, medizinische Ereignisse wie ein Schlaganfall oder psychische Erkrankungen können temporär oder dauerhaft dazu führen, dass die Sprache fehlt.

Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema?

Als Sozialpädagogin habe ich über 20 Jahre mit Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen gearbeitet. Die meisten waren kaum oder gar nicht in der Lage, zu sprechen. Wir konnten uns mithilfe von Piktogrammen, Bildern oder auch Gebärden verständigen. Dabei habe ich immer wieder erlebt, dass mir die Klientinnen und Klienten persönliche Dinge anvertrauten. Das löste in mir den Wunsch aus, meinen Rucksack an Wissen und Kompetenzen rund um Gesprächsführung und psychosoziale Aspekte weiter zu füllen. Es ist äusserst wichtig, dass Menschen mit fehlender Sprache ihre Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle zum Ausdruck bringen können, dass man sie ernst nimmt und einbezieht.

«Oft wird irrtümlich angenommen, dass Menschen, die nicht sprechen können, nichts verstehen. Zwar sind Sprachentwicklung und kognitive Entwicklung eng miteinander verbunden – Fortschritte in der Sprache und im Denken beeinflussen und unterstützen sich also gegenseitig. Gleichzeitig hat das Umfeld aber einen entscheidenden Einfluss darauf, wie sich entsprechende Fähigkeiten entwickeln oder im schlechtesten Fall zurückbilden.»

Eveline Kaufmann
Absolventin MAS Psychosoziale Beratung

Was löst in einem Menschen aus, wenn er sich verbal nicht ausdrücken kann?

Menschen mit fehlender Sprache machen immer wieder die Erfahrung, dass sie ihre Umwelt nicht beeinflussen können. Wenn die Beeinträchtigung angeboren ist, dann erleben sie das schon in der frühen Kindheit. Daraus kann sich ein Gefühl der Ohnmacht entwickeln, das dazu führt, dass sich die Betroffenen in sich zurückziehen. Dies wiederum kann zu Folge haben, dass sie nicht mehr einbezogen werden und vielleicht unbewusst übergangen werden. Aus dieser Hilflosigkeit heraus, reagieren einige auch mit aggressivem Verhalten – etwa mit Kneifen, Schlagen oder Haare ziehen. Die Aggression ist für die Betroffenen in diesem Moment das einzige Mittel, um auszudrücken, dass etwas nicht stimmt und dass sie mit einer Sache nicht einverstanden sind.  Wichtig ist, dass das Umfeld die Person in solchen Situationen nicht als «auffällig» abstempelt, sondern die Ursachen ergründet. Oft sind solche herausfordernden Verhaltensweisen Auslöser für eine Beratung.

Stösst man in der Beratung von Menschen, die nicht sprechen können, nicht sehr schnell an Grenzen?

Das hängt stark von den kognitiven Fähigkeiten der betroffenen Person ab. Oft wird irrtümlich angenommen, dass Menschen, die nicht sprechen können, nichts verstehen. Zwar sind Sprachentwicklung und kognitive Entwicklung eng miteinander verbunden – Fortschritte in der Sprache und im Denken beeinflussen und unterstützen sich also gegenseitig. Gleichzeitig hat das Umfeld aber einen entscheidenden Einfluss darauf, wie sich entsprechende Fähigkeiten entwickeln oder im schlechtesten Fall zurückbilden. Wer nie verstanden wird, verliert früher oder später verständlicherweise die Motivation, sich mitzuteilen. Damit können vorhandene Ressourcen verkümmern. Dem kann man entgegenwirken, wenn man eine gemeinsame Kommunikation aufbaut und Menschen mit fehlender Sprache erfahren lässt, dass sie gehört werden, dass man ihnen etwas zutraut und dass sie eine Wirkung entfalten können.

Aber wie gelingt das, wenn nicht selbstverständlich auf die Sprache zurückgegriffen werden kann?

Es braucht Zeit, Geduld und die Haltung, dass Kommunikation immer möglich ist. Auch ist es wichtig, eigene Interpretationen zu hinterfragen. So reagiert jemand vielleicht verzögert oder kann keine Freude zeigen, beispielsweise wegen einer Gesichtslähmung. Dies darf nicht mit Desinteresse verwechselt werden. Man sollte den Betroffenen genügend Raum lassen für eine Reaktion und nicht immer gleich eine Antwort erwarten. Aber oftmals besteht nicht nur seitens der Menschen mit fehlender Sprache eine grosse Hilflosigkeit, sondern auch seitens von Familienmitgliedern oder Betreuungspersonen. Sie müssen ständig interpretieren, was das Gegenüber fühlt und wünscht. Gerade deshalb wäre es notwendig, vielmehr mit der sogenannten Unterstützen Kommunikation zu arbeiten. Sie kann eine Schlüsselrolle übernehmen.

Was ist Unterstützte Kommunikation und was bewirkt Sie?

Unterstützte Kommunikation ist ein Sammelbegriff für Methoden und Hilfsmittel, mittels derer sich Menschen auch ohne gesprochene oder geschriebene Sprache ausdrücken können. Diese Methoden und Hilfsmittel reichen von einfachen Bildern, Piktogrammen und realen Gegenständen über Gebärden bis hin zu technischen Geräten wie Sprachcomputern. Die Unterstützte Kommunikation kann die fehlende Sprache kompensieren. Das ermöglicht den Betroffenen, sich mitzuteilen, sich weiterzuentwickeln und auch am sozialen Leben teilzuhaben. Ich habe im Rahmen des CAS Mediation eine Frau mit einer komplexen Beeinträchtigung interviewt. Sie ist Rehabilitationswissenschaftlerin mit Masterabschluss und Promotionsstudentin an der Uni zu Köln und kommuniziert über einen Sprachcomputer mit Augensteuerung.

Wie verbreitet sind solche Hilfsmittel – zum Beispiel Sprachcomputer?

Noch ist der Zugang zu Unterstützter Kommunikation nicht immer so einfach. In den Institutionen fehlt es aufgrund des Personalmangels oftmals an Zeit, sich vertieft damit zu beschäftigen. Häufig sind auch die fachlichen und finanziellen Ressourcen nicht vorhanden. Unterstützte Kommunikation wird zudem noch zu wenig gefördert. Zwar werden Hilfsmittel wie beispielsweise Sprachcomputer und die Erstberatung dazu von der IV finanziert.  Die Begleitung und Unterstützung danach jedoch nicht. Und gerade diese ist enorm wichtig. Nichtsdestotrotz werden solche Geräte mittlerweile häufiger eingesetzt, da das Wissen über Unterstützte Kommunikation wächst und viele Institutionen deren Wichtigkeit erkannt haben und dieses Angebot finanzieren.

Gibt es Methoden und Hilfsmittel, die besonders empfehlenswert sind?

Welches Hilfsmittel am geeignetsten ist, kommt auf die Person und den Kontext an. Bei der Kommunikation in der Familie braucht es zum Beispiel nicht zwangsläufig einen Sprachcomputer, denn meist verstehen Eltern ihre Kinder fast blind und können deren Gesten sehr gut lesen. Trotzdem kann ein Sprachcomputer den Wortschatz um ein Vielfaches erweitern. Aber auch mit einfachen Mitteln wie Bildern kann man sehr viel erreichen. Entscheidend ist, dass man sich zusammen mit den Menschen mit fehlender Sprache die Zeit nimmt, eine alternative Kommunikationsform zu erarbeiten und so zu einer gemeinsamen Sprache zu finden. Es lohnt sich auf jeden Fall, hierin zu investieren. Denn werden Barrieren abgebaut, spart das am Ende auch viel Zeit. Wenn die Betroffenen verstanden werden und sich gehört fühlen, lassen sich damit nicht nur Missverständnisse, sondern auch herausfordernde Verhaltensweisen verhindern.

Menschen äussern ihre Gefühle zu einem beachtlichen Teil auch nonverbal. Welche Bedeutung spielt das Lesen der Körpersprache?

Bei Menschen mit fehlender Sprache sind Mimik, Gestik und Körpersprache zentrale Ausdrucksmittel. Gleichzeitig muss man diese mit Vorsicht interpretieren: Ein angespanntes Gesicht muss nicht zwingend auf eine innere Anspannung hindeuten, sondern wird manchmal auch durch eine Spastik verursacht. Dennoch sind solche nonverbalen Reaktionen wichtige Indikatoren für emotionale Zustände wie Enttäuschung oder Traurigkeit.

Was sollten Fachleute aus der Betreuung oder Beratung im Umgang mit Menschen, die nicht sprechen können, ganz allgemein beachten?

Eine zentrale Rolle spielt aktives Zuhören. Bei Menschen ohne Sprache heisst das vor allem, genau zu beobachten: Wie verändert sich die Atmung, wie ist die Körperspannung, gibt es kleine Bewegungen? Wichtig ist auch, die eigenen Beobachtungen dann zu spiegeln. Man kann zum Beispiel sagen: «Ich sehe, du atmest gerade schneller.» Damit signalisiert man dem Gegenüber, dass man seine Empfindungen wahrnimmt. Von grosser Bedeutung ist auch die Art des Fragestellens. Es gilt, je nach Fähigkeit des Gegenübers zwischen offenen und geschlossenen Fragen zu unterscheiden. Zudem soll auf Suggestivfragen verzichtet werden. Diese können manipulativ sein, weil die eigene Erwartungshaltung bereits mitschwingt. Ein Beispiel für eine solche Frage ist: «Du möchtest bestimmt mit auf den Ausflug kommen und diese Gruppenaktivität nicht verpassen?». Ob die Betroffenen wirklich ermutigt werden, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu äussern, hängt also sehr stark damit zusammen, wie man fragt.

Was konnten Sie aus Ihrer Masterarbeit und der Weiterbildung mitnehmen?

Im Rahmen der Weiterbildung haben die Dozierenden sehr viele wertvolle Praxiserfahrungen mit uns geteilt. Zudem habe ich hilfreiche Theorien und Ansätze im Zusammenhang mit der psychosozialen Beratung kennengelernt. Zwar war ich stets gefordert, die Inhalte auch auf die Arbeit mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung anzuwenden, aber das ist mir gut gelungen, auch weil die Dozierenden stets auf individuelle Fragen eingegangen sind. Die Masterarbeit hat mich ermutigt, meinen Weg in der Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und insbesondere auch in der Begleitung von Menschen mit fehlender Sprache weiterzugehen. So kann ich mir gut vorstellen, künftig in diesem Bereich Beratungen anzubieten – zum Beispiel in Institutionen. Es ist wichtig, diesen Menschen zu Wort zu verhelfen, auch wenn sie nicht sprechen können.

MAS Psychosoziale Beratung

Wir leben in einer Beratungsgesellschaft. Entsprechendes Know-how ist in unterschiedlichen Branchen und Tätigkeitsfeldern von zunehmender Bedeutung. Im MAS Psychosoziale Beratung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule erweitern die Teilnehmenden ihre Kenntnisse und Kompetenzen bezüglich des Erfolgsdreiecks der psychosozialen Beratung: Beratung, Vermittlung und Intervention.