«Wir befinden uns in einer gesamtgesellschaftlichen Überforderungsphase»

30. Oktober 2025

Soziale Medien, Deepfakes und KI-generierte Inhalte fordern uns heraus. Benjamin Hanimann, Dozent im CAS Medienpädagogik im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, spricht über Chancen, eine gesamtgesellschaftliche Überforderung und die Verantwortung, die wir alle übernehmen müssen. Neben all den Herausforderungen beleuchtet er auch das Positive, was wir durch die neuen Technologien gewonnen haben und weshalb wir allen Grund haben, optimistisch zu bleiben.

Was verstehen wir unter Medienpädagogik in der heutigen Zeit?

Das Aufgabenfeld der Medienpädagogik ist in den letzten Jahren immer breiter geworden. Sie beginnt bei der klassischen Medienkompetenz, in der wir lernen, News zu lesen, herauszufinden, wer hinter diesen Artikeln steht, und wie deren Inhalt zu verstehen ist. Weiter geht es mit modernen Kompetenzen. Bei den vielen neuen Trends müssen wir lernen zu fragen, woher diese kommen, wieso sie da sind, und wie wir mit ihnen umgehen. Im Kern geht es darum, zu verstehen, wie wir prinzipiell mit den Medien umgehen, uns vor Negativem schützen und uns das Positive zunutze machen.

Kann man sagen, dass Medienkompetenz mit der digitalen Entwicklung der letzten Jahre wichtiger denn je geworden ist?

Ja, auf jeden Fall. Vor allem mit den Sozialen Medien in Zusammenspiel mit Künstlicher Intelligenz. Es können sehr leicht Fake-Accounts mit erfundenen Persönlichkeiten erstellt werden. Gefälschte Bilder und Videos, also Deepfakes kann heute jede und jeder kreieren, völlig problemlos. Das stellt uns vor ganz neue Herausforderungen, denn wir können noch weniger davon ausgehen, dass das, was wir sehen, echt ist. Umso wichtiger wird es, genauer hinzuschauen. Heutzutage sollten wir uns immer die Frage stellen: «Kann das, was ich da sehe, überhaupt sein?»

Welche Rolle spielen dabei die Sozialen Medien?

Auch ist es nicht leicht, objektiv zu bleiben. Die Sozialen Medien, vor allem die Influencer, vermitteln ein sehr verlockendes Bild. Jenes einer Welt, in der man sehr schnell und viel Geld verdienen und sein Leben und den Alltag völlig frei nach Lust und Laune gestalten kann. Den Jugendlichen bei dieser Verlockung beizubringen, dass Soziale Medien sehr wenig mit der Realität zu tun haben, ist eine der herausforderndsten Aufgaben in der heutigen Medienpädagogik.  

Stellt Künstliche Intelligenz unsere Medienpädagogik auf den Kopf?

Die Künstliche Intelligenz hat nicht nur die Medienpädagogik auf den Kopf gestellt, wir befinden uns diesbezüglich gesamtgesellschaftlich in einer Überforderungsphase. Egal wo ich hinschaue, wir alle wissen nicht, wie im Moment damit umzugehen ist.

Es gibt Schülerinnen und Schüler, die ihren eigenen Kopf immer seltener nutzen und einfach alles von der KI generieren lassen. Auch bei Lehrpersonen beobachten wir, dass immer mehr Inhalte oder Übungsblätter für ihren Unterricht für sich erstellen lassen und diese weder überprüfen noch überarbeiten. Die Medienpädagogik muss aktuell auf jeden Fall sehr schnell wachsen, um noch Unterstützung bieten zu können.

Woran macht sich diese gesamtgesellschaftliche Überforderung sonst noch bemerkbar?

Auf der einen Seite haben zahlreiche Personen Angst davor, durch KI ihre Arbeit zu verlieren. Auf der anderen Seite gibt es viele, die denken, Künstliche Intelligenz mache nun alles für uns und wir könnten uns zurücklehnen. Immer mehr Menschen nutzen die Technologie schon fast als persönliche Assistenz oder als Therapeuten. Es kommt vor, dass der Dialog mit der KI bevorzugt wird, weil sie der Meinung sind, sie biete ihnen bessere Ratschläge und Unterstützung. In den USA gab es in diesem Jahr bereits einen Vorfall, bei dem sich ein Jugendlicher das Leben nahm, nachdem er lange mit einer KI im Dialog war und sich bei dieser Hilfe suchte. Viele sind sich nicht bewusst, dass es sich lediglich um ein statistisches Modell handelt, das Wörter errechnet. Dieses spricht nicht mit Personen. Es kann weder eine emotionale Bindung aufbauen, noch bietet sie Ersatz für Gespräche und Beratungen mit Fachpersonen.

Was braucht es, damit unsere Politik bei diesen Entwicklungen mitkommt?

Grundsätzlich wäre in einem ersten Schritt eine weiterbildungsintensive Phase für alle Politikerinnen und Politiker nötig, sodass bei allen ein grundlegendes Verständnis für diese Entwicklungen in unserer Technologie vorhanden ist. Denn um über ein Thema zu entscheiden, muss man es im Grundsatz auch verstehen. Doch unser politisches System in der Schweiz lässt bis zu einem gewissen Grad gar nicht zu, dass wir hierfür eine gesetzliche Regelung haben. Denn die Entwicklung ist so rasant und konstant, so schnell können wir gar nicht auf Gesetzesebene reagieren.

Wie können wir unseren Kindern und Jugendlichen einen verantwortungsvollen Umgang beibringen?

Indem wir ihnen eine verantwortungsvolle und gemässigte Nutzung der Medien vorleben. Ich erlebe oft, dass Eltern der Meinung sind, die Verantwortung liege bei den Schulen. Das sehe ich anders. Die Verantwortung der Erziehung liegt klar bei den Eltern und beginnt zu Hause. Wir können die Schulen nicht dafür verantwortlich machen, wenn unsere Kinder und Jugendlichen keinen gesunden Umgang mit Medien haben.
Das Wichtigste ist, mit unseren Kindern im Dialog zu bleiben, zu reflektieren und gemeinsam mit ihnen über das Gesehene zu sprechen.
So bringen wir ihnen bei, zu hinterfragen, das Gesehene aktiv zu verarbeiten und sich nicht einfach berieseln zu lassen, ohne jede Reflexion oder Differenzierung.

«Das Wichtigste ist, im Dialog zu bleiben, zu reflektieren und gemeinsam darüber zu sprechen.»

Benjamin Hanimann
Dozent CAS Medienpädagogik im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz

Womit sind Erziehungsberechtigte aktuell konfrontiert?

Es gibt viele verschiedene Spannungsfelder. Ich sehe sehr häufig, dass Eltern ihren eigenen Medienkonsum nicht verändern möchten, gleichzeitig wollen sie aber für ihre Kinder Vorbilder sein und ihnen Regeln aufsetzen. Doch wenn wir den Kindern den richtigen Umgang nicht vorleben, wird es schwierig, diesen von ihnen einzufordern. Dazu kommt die Gruppendruck-Thematik. Wenn ich mit meinem Kind vereinbart habe, dass es erst ab der Oberstufe ein Handy gibt, jedoch in der 6. Klasse alle schon eines haben, dann müssen wir vielleicht eine Zwischenlösung finden. Sodass das Kind wenigstens in der Kommunikation nicht ausgeschlossen wird. Und wenn das nur heisst, dass mein Kind einfach zu Hause ein Handy hat. Wichtig ist jedoch, dass das Kind von sich aus den Leidensdruck äussert. Denn wenn es das Kind selbst nicht stört, gibt es für die Eltern auch keinen Grund, das Vereinbarte anzupassen.

Was raten Sie Eltern in Bezug auf ihre eigene Medienkompetenz?

Sie sollten üben, das eigene Medienverhalten zu reflektieren: die eigene Medienzeit im Auge behalten, sich mit der Partnerin oder dem Partner abends hinsetzen und sich darüber austauschen, was man gelesen und gehört hat. Es ist wichtig, dass wir alle wieder mehr in die Gesprächsphase kommen. Auch wenn wir als Eltern mit den Themen nichts zu tun haben, ist es wichtig, dass wir Interesse zeigen und den Austausch fördern. Beispielsweise bei Games. Hier höre ich oft, dass Eltern sagen: «Aber ich habe doch keine Ahnung davon.» Das lässt sich ändern, indem wir uns einfach neben den Bildschirm setzen und uns von unseren Kindern alles von A bis Z zeigen lassen, wertfrei zuhören und danach mit dem Kind gemeinsam reflektieren. «Was findest du am Spiel spannend?», «Wie hast du dich beim Spielen gefühlt?» Oft ist nicht der Inhalt das Problematische, sondern das fehlende Hinterfragen, Einordnen und Verarbeiten des Gesehenen.

Was ist die Aufgabe der Schulen?

Das Problem ist, dass der Lehrplan 21 nicht geregelt hat, was die Aufgabe der Schule in diesem Gebiet ist. Ganz übertrieben gesagt, steht in diesem Lehrplan noch immer, dass die Lernenden das Office 365 bedienen können müssen. Es gibt also kein Konzept, das den Schulen vorgibt, wie sie damit umgehen sollen. Jede muss das für sich selbst bestimmen.

Die Aufgabe der Schulen sehe ich klar darin, den Lernenden beizubringen, wie man die digitalen Werkzeuge nutzen kann, um das Beste aus den eigenen Fähigkeiten und Wissen herauszuholen. Die Technologie bietet viele Möglichkeiten, die Aufgaben und das Lernen auf uns Individuen anzupassen. Es gibt so viele Möglichkeiten, um alle verschiedenen Lerntypen abzuholen. Das kann für die Lehrpersonen eine enorme Entlastung darstellen, wenn sich die Lernenden in dieser Thematik selbst weiterhelfen können. 

«Oft ist nicht der Inhalt das Problematische, sondern das fehlende Hinterfragen, Einordnen und Verarbeiten des Gesehenen.»

Nach den vielen Herausforderungen, die wir nun beleuchtet haben: Was ist das Positive an den Entwicklungen, die wir gerade durchleben?

Es gibt so viel Positives. Die heutigen Games beispielsweise bieten uns die Möglichkeit, unsere kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern, die Resilienz zu erhöhen und uns spielerisch neues Wissen anzueignen. In den Sozialen Medien können wir viele inspirierende Dinge lernen. Junge Menschen können sich spannende Life-Hacks aneignen. Und mit KI haben wir unglaublich viele Chancen, das individuelle Lernen zu fördern. Ich begleite zurzeit einen Jugendlichen im Autismus-Spektrum. Dank KI können diese Lernenden die Aufgabenstellung in der Schule für sich herunterbrechen und somit bessern.

Wenn ich etwas lernen möchte, finde ich in der heutigen digitalen Welt viel schneller Zugang dazu. Wichtig ist einfach, dass wir unser Hirn nie ganz auslagern. Wir sollten immer nach der Regel arbeiten: «Ich erbringe eine Eigenleistung und nutze die KI, um sie zu verbessern oder zu präzisieren». Und nicht: «Ich nutze die KI und werde selbst nicht besser».

Können wir einschätzen, wohin uns die Zukunft führt?

Die Zukunftsforschung ist sehr schwer geworden. 5-Jahres-Vorhersagen gehen vielleicht noch, doch wenn wir weiter in die Zukunft prognostizieren wollen, haben wir keine Chance.

Wir wissen, dass die Technologie irgendwann an ihre Grenzen stossen wird und sich dann nicht mehr weiterentwickeln kann. Mit der rasanten Entwicklung der Künstlichen Intelligenz wird es nicht mehr viele Jahre dauern, bis wir eine erste Grenze erreicht haben. Und wenn diese konstante Weiterentwicklung vorbei ist, können wir anfangen uns zu fragen, wie wir diese Technologie nun wirklich einsetzen und für uns nutzen wollen. 

Bis dahin hoffe ich, dass wir die echte Welt wieder etwas mehr schätzen. Wenn wir alle wissen, dass in den Sozialen Medien vieles Fake ist, gehen wir vielleicht wieder selbst hinaus und lernen die Welt besser kennen. Sodass wir wieder mehr mit unseren eigenen Augen sehen, wieder mehr in unserem Umfeld mitwirken, wieder mehr physische Räume für Austausch und Zusammensein schaffen. Das wäre mein Wunsch. 

CAS Medienpädagogik im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz
In einer von Künstlicher Intelligenz (KI) geprägten Welt ist Medienpädagogik als flexibles Modell zu verstehen, das sich an vielfältige Bedürfnisse und Anforderungen anpasst. Der CAS Medienpädagogik im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz befähigt Sie, die Herausforderungen und Chancen des medialen Wandels zu verstehen und Medienpädagogik sinnvoll einzusetzen.