Kinder kennen ihre Rechte zu wenig. Dazu kommt, dass sie meist auf Erwachsene angewiesen sind, um an Informationen oder im Ernstfall an Hilfsangebote zu gelangen. Das Projekt «Kinderrechte in der Tasche» soll das ändern. Ziel ist es, 6- bis 12-Jährigen mit einer App einen niederschwelligen und spielerischen Zugang zu Rechtsgrundlagen und Anlaufstellen zu bieten. Um den Bedürfnissen und Interessen der künftigen Nutzerinnen und Nutzer Rechnung zu tragen, arbeitet das Projektteam in einem partizipativen Prozess mit Kindern zusammen.
Bild: Matthias Baldauf
Kinder haben ein Recht, sicher und gesund aufzuwachsen, gefördert und vor Gewalt geschützt zu werden, sich mitzuteilen und mitzubestimmen. Dies und vieles mehr hält die 54 Artikel umfassende UN-Kinderrechtskonvention seit über 30 Jahren fest. Doch wie ein Bericht des Netzwerks «Kinderrechte Schweiz» zeigt, wissen Kinder darüber unzureichend Bescheid. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Erfahrungen der Kinderrechtsexpertin Regula Flisch. Die Dozentin und Leiterin Weiterbildung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule führte früher im Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Abklärungen zum Kindeswohl durch. In vielen Fällen sei das Recht auf Schutz nicht gewährleistet gewesen: etwa, weil Kinder Gewalt erfahren hätten oder vernachlässigt worden seien. «Es zeigte sich, dass die betroffenen Kinder sich über ihre Rechte nicht im Klaren waren und ihnen Informationen dazu fehlten», sagt Regula Flisch. «Auch wussten sie nicht, an wen sie sich in ihrer Situation wenden können.»
«Bei Kindeswohl-Abklärungen zeigte sich, dass die Kinder sich über ihre Rechte nicht im Klaren waren und ihnen Informationen dazu fehlten. Auch wussten sie nicht, an wen sie sich in ihrer Situation wenden können.»
Regula Flisch, Dozentin und Leiterin Weiterbildung OST, Mitglied Projektteam «Kinderrechte in der Tasche»
Eine Erklärung für diesen Zustand sieht Regula Flisch darin, dass es nur wenig öffentlich verfügbares Material gibt, das kindergerecht aufbereitet ist. Insbesondere für Kinder im Primarschulalter sei es deshalb schwierig, an Informationen zu kommen, die sie auch wirklich verstehen. Darüber hinaus sei es meist von Erwachsenen abhängig, ob ein Kind Zugang zu diesen Informationen erhalte.
Information über das Smartphone
Um Kinder nachhaltig über ihre Rechte aufzuklären, hat ein multidisziplinäres Team der OST-Institute IPM, IDEE und IFSAR zusammen mit der PH Luzern und einem breiten Partnernetzwerk bestehend aus Unicef Schweiz und Liechtenstein, der Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz, PACH, Integras, éducation21, Terre des hommes, Pro Juventute, Procap und Pro Infirmis, das Projekt «Kinderrechte in der Tasche» initiiert. Dieses sieht die Entwicklung einer App vor, die Kindern ihre Rechte näherbringt und ihnen einen niederschwelligen Zugang zu Anlaufstellen ermöglicht. Unter anderem fiel die Wahl auf eine mobile Anwendung, weil sich Kinder vermehrt via Smartphone informieren.
«Kinder können sich heute einfach und selbständig Apps herunterladen. Sie fahren damit Autorennen oder führen einen Ponyhof», sagt Regula Flisch. «Es ist deshalb naheliegend, dass sie sich auch per App mit ihren Rechten vertraut machen.»
Kinder entwickeln die App mit
Medienexpertin Selina Ingold, die am Institut für Innovation, Design und Engineering (IDEE) der OST lehrt und forscht, ist Co-Leiterin des Projekts. Ihr Augenmerk gilt vor allem der medialen Umsetzung der Kinderrechtsapp. Ziel ist es, das Produkt so zu gestalten, dass Kinder nicht nur Wissen erlangen, sondern auch ermutigt werden, ihre Rechte einzufordern», sagt sie.
Die neue App richtet sich hauptsächlich an 6- bis 12-Jährige. Um den Bedürfnissen und den Interessen dieser Zielgruppe gerecht zu werden, hat das Projektteam nicht nur verschiedene Organisationen miteinbezogen, sondern auch die Kinder selbst. «Es handelt sich von A bis Z um ein partizipatives Projekt», erklärt Selina Ingold. Man wolle die künftigen Nutzerinnen und Nutzer deshalb bei Fragen der digitalen Aufbereitung mitreden lassen.
«Es handelt sich von A bis Z um ein partizipatives Projekt. Wir wollen die künftigen Nutzerinnen und Nutzer deshalb bei Fragen der digitalen Aufbereitung mitreden lassen.»
Selina Ingold, lehrt und forscht am Institut für Innovation, Design und Engineering an der OST, Co-Projektleiterin «Kinderrechte in der Tasche»
Bereits haben an verschiedenen Orten der Schweiz Workshops mit Kindern im Primarschulalter stattgefunden. Unter den Teilnehmenden waren auch Pflegekinder, die als vulnerable Gruppe besonders von der App profitieren sollen. Bei den Workshops legte das Projektteam Wert auf eine spielerische Herangehensweise. So konnten die Kinder Situationen, die in Bezug zu den Kinderrechten stehen, beispielsweise mit «Lego Serious Play» darstellen. «Durch das Bauen fiel es vielen leichter, über das Thema zu sprechen», sagt Selina Ingold. Nebst Lego-Steinen und -Figuren kamen zudem ausgedruckte Smartphone-Vorlagen zum Einsatz, auf denen die Kinder ihre Vorstellungen zeichnerisch umsetzten.
Interesse wecken durch spielerischen Aufbau
«Aus den Workshops konnten wir hilfreiche Inputs gewinnen», fasst Selina Ingold zusammen. Unter anderem habe sich «Gamification» als wichtiger Aspekt herauskristallisiert. So wünschten sich beispielsweise mehrere Kinder, dass ein Quiz in die App integriert wird und dass Interaktionsmöglichkeiten bestehen. «Ein spielerischer Aufbau ist folglich sehr wichtig», erklärt die Medienexpertin. «Es gilt, ein komplexes Thema so aufzubereiten, dass das Interesse der Kinder geweckt wird.» Ziel ist es nun, die Ideen zu einem eigenständigen Produkt weiterzuentwickeln, das inhaltlich jedoch auch nach der Lancierung laufend erweitert werden und damit wachsen kann. Bis im Frühling 2023 soll die App verfügbar sein. Bis dahin gibt es noch viel zu tun. Fest steht, dass die Meinung der Kinder weiterhin gefragt ist.
Dieser Beitrag basiert auf einem Webinar aus der Webinarreihe «Klüger am Abend» der Weiterbildung OST.