«Jugendliche brauchen Verlässlichkeit und Geborgenheit, aber auch Freiräume»

15. Dezember 2021

Seit 14 Jahren ist Sabin Bärlocher als Oberstufenlehrerin tätig. Im Rahmen ihrer Masterarbeit hat die Absolventin des MAS in Psychosozialer Beratung untersucht, welchen Einfluss die Beziehung zwischen Lehrperson und Schülerin bzw. Schüler auf die Lernmotivation hat. Im Interview spricht sie über die Balance zwischen Nähe und Distanz, über die Bedürfnisse von Jugendlichen und über die heutige Rolle der Lehrerinnen und Lehrer.

Interview:

Was benötigen Oberstufenschülerinnen und -schüler, um motiviert und erfolgreich lernen zu können?

Eine zentrale Voraussetzung ist die soziale Eingebundenheit: Die Schülerinnen und Schüler müssen sich wohlfühlen – ob in der Beziehung zu Gleichaltrigen oder zur Lehrperson. Weiter spielen das Autonomieerleben und die fachlichen Kompetenzen der Jugendlichen eine wichtige Rolle. Als Lehrperson hat man einen hohen Einfluss auf die Lernmotivation und den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler.

Sabin Bärlocher, Oberstufenlehrerin, Absolventin «MAS in Psychosozialer Beratung»

In Ihrer Masterarbeit halten Sie fest, dass dem Beziehungsaspekt und Autonomieerleben in der Schulpraxis zu wenig Beachtung geschenkt wird. Können Sie das näher erklären?

Es besteht ein grosser zeitlicher Druck, den vorgegebenen Stoff zu behandeln und die Schülerinnen und Schüler so für die Berufslaufbahn oder auf weiterführende Schulen vorzubereiten. Die Schulstruktur sowie die Organisation der Volksschulen lassen nur bedingt Raum und Zeit für Begegnung. Bezeichnend für die heutige Situation ist beispielsweise das «Lektiönlen»: Die Schülerinnen und Schüler haben teilweise alle 45 Minuten ein anderes Fach und wechseln so in kurzer Zeit zwischen verschiedenen Räumen und Lehrpersonen hin und her. Das macht es schwierig, die Beziehung zu pflegen und die Autonomie zu fördern.

Wie könnte man diese Situation verbessern?

Es braucht mehr handlungsorientierte und zielgerichtete Lernsettings, die ein soziales Lernen ermöglichen und es erlauben, mit den Schülerinnen und Schülern in eine Beziehung zu treten. Das könnten zum Beispiel Sondertage oder Sonderwochen sein. Hilfreich wären zudem Themenbereiche, die flexibel auf die Interessen der Jugendlichen anpassbar sind. Auch plädiere ich für einen Begegnungsraum, der dazu dient, über Kontakte Motivation zu schaffen. Aus meinem Berufsalltag weiss ich, dass vieles im Kleinen von den Lehrpersonen schon gelebt wird. Es wäre aber sehr förderlich, wenn diese Praxis in der Schule auch strukturell und organisatorisch verankert würde.

Sie beschreiben ein gesundes Nähe-Distanz-Verhalten der Lehrperson als optimale Voraussetzung für die Lernmotivation. Was bedeutet das konkret?

Auf der einen Seite gilt es, Vertrauen zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen sowie Verlässlichkeit und Geborgenheit zu bieten. Auf der anderen Seite sollte man ihnen auch Freiräume zugestehen, in denen sie eigenständig handeln und ihre Erfahrungen machen können. Das erfordert viel Feingefühl. Eine gute Balance zu finden ist manchmal herausfordernd. Grundsätzlich ist wichtig, dass sich eine Lehrperson den Jugendlichen gegenüber stets fair und wertschätzend verhält und sie in ihrer Andersartigkeit akzeptiert. Durch echtes, aufrichtiges Interesse und eine Akzeptanz, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, wird ein positives Lernklima geschaffen.

Grundsätzlich ist wichtig, dass sich eine Lehrperson den Jugendlichen gegenüber stets fair und wertschätzend verhält und sie in ihrer Andersartigkeit akzeptiert.

Haben die Jugendlichen nicht sehr unterschiedliche Bedürfnisse nach Nähe bzw. Distanz?

Das ist so. Bei einigen Schülerinnen und Schülern braucht es nicht viele Worte, um eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Es genügt manchmal auch, wenn man ihnen mit einem Blick oder einer Geste signalisiert, dass man für sie da ist. Andere haben wiederum das Bedürfnis, sich der Lehrperson in persönlichen Angelegenheiten anzuvertrauen. Entscheidend ist, dass das In-Beziehung-treten gegenseitig erfolgt. Wenn ein Jugendlicher jegliche Kontaktaufnahme abwehrt, darf man nichts erzwingen. Ich habe es jedoch höchst selten erlebt, dass es gar nicht gelingt, sich zu begegnen. Die allermeisten Schülerinnen und Schüler sind interessiert daran, eine gute Beziehung zur Lehrperson zu pflegen.

Gehört zu einer solchen guten Beziehung auch, dass sich die Lehrperson privaten Sorgen der Kinder und Jugendlichen annimmt?

Wenn die Schülerin oder der Schüler einer Lehrperson private Sorgen anvertraut, ist es angebracht, sich diesen anzunehmen. Es ist aber wichtig, nicht in Aktionismus zu verfallen und alles auf eigene Faust lösen zu wollen. Vielmehr geht es darum, dem Gegenüber zuzuhören, Rückfragen zu stellen und bei Bedarf den Zugang zu weiterführenden Informationen zu ermöglichen. Auch gehört es zur Aufgabe einer Lehrperson, in einem schwierigen Fall – zum Beispiel bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung – zusätzliche Fachstellen einzubeziehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine klare Kommunikation gegenüber allen Beteiligten.  

Früher waren Lehrerinnen und Lehrer vor allem Autoritätspersonen. Was sind sie heute?

Fachlich gibt nach wie vor die Lehrperson den Ton an. Auf emotionaler Ebene begegnet man den Schülerinnen und Schülern aber mehr auf Augenhöhe. Für Kinder und Jugendliche ist es sehr wichtig, ernst genommen zu werden. Das zeigt sich in Gesprächen immer wieder. Eine Lehrperson ist heute nicht nur Wissensvermittlerin, sondern auch Mediatorin, Beraterin oder Krisenmanagerin. Kurz: eine empathische, authentische Person mit einem offenen Ohr. Für mich passt der Ausdruck «Coach» am besten. Es gibt jedoch Lehrerinnen und Lehrer, die all das nicht sein wollen, die ihre Aufgabe hauptsächlich darin sehen, ihrer Schülerschaft fachlich etwas beizubringen. Mit dieser Haltung wird es aber meiner Einschätzung nach schwieriger, eine Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen. Je weniger man diesem Beziehungsaspekt Rechnung trägt, desto geringer sind Motivation und Lernerfolg.  

Eine Lehrperson ist heute nicht nur Wissensvermittlerin, sondern auch Mediatorin, Beraterin oder Krisenmanagerin.

Welche Rolle spielen Alter und Geschlecht der Lehrperson bei der Beziehungsgestaltung zu Schülerinnen und Schülern?

Das Alter der Lehrperson hat nur bedingt einen Einfluss auf deren Beziehungsfähigkeit. Charakter und Persönlichkeit spielen diesbezüglich eine viel grössere Rolle. Was das Geschlecht der Lehrkraft betrifft, findet man in der Literatur keine Hinweise auf genderspezifische Unterschiede bei der Regulation von Nähe und Distanz. In meiner Berufspraxis habe ich aber schon festgestellt, dass einer männlichen Lehrperson bei der Beziehungsgestaltung zum Beispiel schneller sexualisierte Antriebe unterstellt werden.

Inwiefern hat Ihre Masterarbeit Ihren Umgang mit den Schülerinnen und Schülern verändert?

Mir war der Beziehungsaspekt schon immer sehr wichtig. Bei der Recherche für meine Masterarbeit hat sich sehr deutlich bestätigt, welch grossen Einfluss dieser auf die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler hat. Ich bin nun bestärkt darin, den Leistungsdruck im Schulalltag zu verringern und stattdessen den Fokus noch mehr auf die Beziehungsarbeit und die Autonomieentwicklung der Jugendlichen zu richten. Werden die Schülerinnen und Schüler ernst genommen, stärkt sich ihre Autonomie und es entwickelt sich eine Motivation, welche die Schule überdauert. Das Lernen hört nicht auf nach der obligatorischen Schulzeit. Ich möchte erreichen, dass meine Schülerinnen und Schüler auch danach noch Freude daran haben, sich neues Wissen anzueignen. Oder wie Heraklit schon sagte: «Lehren entspricht nicht dem Füllen eines Eimers, sondern dem Entfachen eines Feuers».