Gewalt im Pflegeheim ist häufig, findet aber meist im Verborgenen statt. Sie kann sowohl von Pflegenden als auch von Bewohnenden ausgehen. Noch immer handelt es sich um ein Tabuthema, das wenig erforscht ist. Ein Projektteam des IPW Institut für angewandte Pflegewissenschaft möchte Licht ins Dunkel bringen. Gesucht werden Menschen, die ihre Geschichte zu Gewalt und Aggression im Pflegeheim erzählen. Ziel ist es, die Entstehung entsprechender Situationen zu verstehen und ihnen vorzubeugen. Denn die gesundheitlichen Auswirkungen für die Beteiligten sind enorm.
Festhalten, stossen, spucken, schlagen, schimpfen, beleidigen, drohen: Gewaltsame Handlungen – ob physisch oder psychisch, verbal oder nonverbal – sind in Pflegeheimen keine Seltenheit. «Es sammeln sich dort Risikofaktoren an, die das Auftreten von Gewaltereignissen fördern», sagt Heidi Zeller vom IPW Institut für Angewandte Pflegewissenschaft der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Sie ist Leiterin eines Forschungsprojekts, das sich spezifisch Pflegeheim-Situationen widmet, in denen ein erhöhtes Risiko für Gewalt besteht. Dabei geht es um Gewalt, die von Bewohnenden und/oder Pflegenden ausgeht und jeweils Pflegende oder Bewohnende betrifft.
«Es lässt sich festhalten, dass Gewalt zur Verschlechterung des Gesundheitszustands beiträgt und die Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen, beeinträchtigt»
Prof. Dr. Heidi Zeller
Leiterin Forschungsprojekt
IPW Institut für Angewandte Pflegewissenschaft
Auch institutionelle Mängel erhöhen das Risiko für Gewalt
Risikofaktoren für Gewalt finden sich gemäss Heidi Zeller innerhalb wie auch ausserhalb der Pflegebeziehung. «Innerhalb der Pflegebeziehung werden unter anderem die Intimität der pflegerischen Tätigkeit, die Belastung durch Alter und Tod, Krankheit und Leid wie auch das Missverhältnis zwischen seelischer Distanz und körperlicher Nähe diskutiert», so die Expertin. Mögliche Risikofaktoren ausserhalb der Pflegebeziehung seien beispielsweise totalitäre Institutionszüge, personelle Unterbesetzung, Schwächen im Führungsverhalten, fehlende Anerkennung von Mitarbeitenden oder unzureichende Kompetenz im Umgang mit komplexen Pflegesituationen. Aber auch Konflikte im Team, Fehler in der Kommunikation oder das Nichtwahrnehmen von Auffälligkeiten und Verdachtsmomenten würden zu einer Verschärfung beitragen.
Wie Situationen mit erhöhtem Gewaltrisiko genau entstehen und welche Dynamik sie entfalten, ist bisher wenig bekannt. «Der Grund dafür liegt darin, dass Gewalt im Pflegeheim bisher isoliert in Bezug auf verschiedene Täter-Opfer-Konstellationen betrachtet wurde», sagt Heidi Zeller. Ein umfassender Gewaltbegriff, der die Verflechtungen zwischen Akteurinnen und Akteuren sowie deren Handlungen berücksichtige, habe bisher keine Anwendung gefunden.
Verminderte Lebensqualität, sozialer Rückzug, Burnout
Welche Auswirkungen hat Gewalt auf die involvierten Personen? «Es lässt sich festhalten, dass Gewalt zur Verschlechterung des Gesundheitszustands beiträgt und die Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen, beeinträchtigt», sagt Heidi Zeller. Die Folgen davon seien eine reduzierte Lebensqualität und eine erhöhte Mortalität.
Auf psychologischer Ebene bewirken Gewalterfahrungen, dass die Betroffenen häufiger unter Depressionen und Angstzuständen leiden, sich sozial zurückziehen, isolieren und einsam sind.
Pflegende würden ihre Erfahrungen oft mit einem «Horrorfilm» vergleichen, sagt Heidi Zeller. «Die Spannungen zwischen den vielfältigen Anforderungen an die Pflege, dem Verständnis von guter Pflege, dem teilweise herausfordernden Verhalten der Bewohnenden und den knappen Ressourcen führen zu Rollenkonflikten, Ambiguität und mitunter zu Burnout und/oder Gewalt.» Pflegende, die Gewalt gegen Bewohnende angewandt oder Gewalt von Seiten der Bewohnenden erfahren haben, sähen sich selbst auch als Opfer in einem System, das die Entstehung von Gewalt fördert.
Prävention als oberstes Ziel
Im Rahmen des Forschungsprojekts gilt es herauszufinden, wie Situationen mit Gewaltrisiko entstehen, wie sie erlebt werden und wie die beteiligten Personen darin handeln. Denn oberstes Ziel ist es, zur Prävention von Gewalt im Pflegeheim beizutragen.
Das Projektteam sucht deshalb Menschen, die ihre Geschichte zu Gewalt und Aggression im Pflegeheim erzählen – ob sie selbst Gewalt angewendet haben oder davon betroffen waren bzw. sind. Interessierte können sich über die Webseite zu einem Gespräch anmelden oder weitere Informationen anfordern. Der Aufruf dauert noch bis zum 30. November 2023.
Je mehr man über die Entstehung von Situationen mit Gewaltrisiko weiss, desto zielgerichteter können Massnahmen zur Gewaltprävention umgesetzt werden. Zu den möglichen Ansätzen gehört gemäss Heidi Zeller die Unterstützung von Teams durch Supervision, wo zum Beispiel der Umgang mit Gefühlen und Grenzsituationen thematisiert wird. Zudem sei eine effektive Kommunikation von grosser Bedeutung, ebenso wie eine professionelle Gesprächs- und Sprachkultur, eine transparente Fehlerkultur und die Bereitschaft, voneinander zu lernen, so die Projektleiterin. «Kontinuierliche Weiterbildung und gezieltes Training des gesamten Teams, beispielsweise im Umgang mit spezifischen Situationen wie Demenz, sind ebenfalls von hoher Relevanz.»
Auf herausfordernde Situationen professionell reagieren
Gewalt im Pflegealltag ist auch Thema in der Weiterbildung an der OST. So wird dieses Phänomen im CAS Lebensweltorientierte Demenzpflege aufgegriffen und diskutiert. Der Zertifikatskurs schärt die fachlichen und persönlichen Kompetenzen in der Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz. Dabei stehen die lebensweltorientierte Ausrichtung der Interventionen und Handlungsstrategien im Fokus. Die Teilnehmenden gewinnen mehr Verständnis und Sicherheit, um Betroffene sowie ihr Umfeld zu begleiten und in den unterschiedlichen Situationen den bestmöglichen Weg zu gestalten.