Eine Angehörige hält die Hand einer Frau im Krankenbett.

«Wenn Angehörige wissen, wie sie helfen können, fällt ihnen der Umgang leichter»

7. Dezember 2023

Selbstbestimmtes Sterben ist je länger, je weniger ein Tabu. Einige unheilbar kranke Menschen hören auf zu essen und zu trinken, um ihr Leben vorzeitig zu beenden. Mit diesem freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) hat sich Fabienne Walder, Absolventin des MAS Palliative Care, im Rahmen ihrer Masterarbeit auseinandergesetzt. Einen besonderen Fokus hat die Pflegefachfrau dabei auf die Angehörigen gerichtet. Im Interview spricht sie über deren Empfindungen, über herausfordernde Situationen während des Sterbeprozesses und über rechtliche Fragen.

Interview:

Fabienne Walder, wer entscheidet sich dafür, den eigenen Tod durch den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit herbeizuführen? Und weshalb?

Es sind mehrheitlich Personen zwischen 70 und 90 Jahren, die nicht nur körperlich leiden, sondern auch in einer Art und Weise lebensmüde geworden sind. Oft wird deutlich, dass sie niemandem mehr zur Last fallen wollen. Der FVNF ist für sie eine Möglichkeit, ihr Leben respektive ihr Sterben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Gleichzeitig handelt es sich um eine natürliche Alternative zum Freitod via Sterbehilfsorganisation. Letzterer ist jedoch unumkehrbar. Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit führt meist innerhalb von drei Wochen zum Tod. Grundsätzlich kann man die Länge ein Stück weit selbst steuern. Je nachdem, ob man von heute auf morgen komplett auf Essen und Trinken verzichtet oder allmählich auf 0 reduziert. Die ersten vier bis sieben Tage lässt sich der Prozess abbrechen, ohne dass man Schäden befürchten muss.

Gibt es ein Beispiel, das Ihnen in besonderer Erinnerung bleibt?

In meiner ehemaligen Tätigkeit in einer Pflegeeinrichtung mit drei Hospizzimmern war ich involviert in die Begleitung einer 86-jährigen Frau. Sie litt unter unerträglichen Beschwerden und wünschte explizit, durch den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit vorzeitig sterben zu können. Als Pflegeteam waren wir auch damit konfrontiert, ihren trauernden demenzkranken Lebenspartner zu begleiten. Die Situation erwies sich als sehr herausfordernd. Es stellte sich heraus, dass es eindeutig an externen Unterstützungsangeboten für Angehörige fehlt. Zudem ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass Pflegeinstitutionen eine Haltung sowie Richtlinien zum Thema Sterben und Tod durch den FVNF entwickeln. Es braucht vermehrt eine Auseinandersetzung damit – sowohl auf Stufe der Pflegenden und Pflegeinstitutionen als auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Das gab mir den Anstoss, meine Masterarbeit zu diesem Thema zu schreiben.

«Es besteht eine grosse Unsicherheit, wenn es darum geht, Menschen beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zu begleiten. Unter anderem stellen sich immer wieder rechtliche Fragen. Zum Beispiel, wie man mit einer Person umgeht, die im Delir nach Essen und Trinken verlangt, obwohl sie im Vorfeld ausdrücklich gewünscht hat, darauf zu verzichten.»

Fabienne Walder
Absolventin MAS Palliative Care
OST – Ostschweizer Fachhochschule

Wie verbreitet ist der Wunsch älterer Personen, auf diese Art aus dem Leben zu scheiden?

Jüngeren Forschungsergebnissen zufolge lassen sich 1,7 Prozent der Todesfälle in Pflegeeinrichtungen auf den FVNF zurückführen. Hierbei eingerechnet sind jedoch nur Personen, die explizit den Wunsch äussern, auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten zu wollen.  Sie machen etwa einen Viertel aus. Viele ältere Menschen teilen implizit mit, dass sie nichts mehr essen und trinken wollen. Die Forschenden gehen deshalb von einer höheren Dunkelziffer aus. Demnach dürfte die Anzahl der Todesfälle durch Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit etwa bei 7 Prozent liegen.

Wie kann man sich dieses implizite Äussern des Sterbewunsches vorstellen?

Es gibt ältere Menschen, die bei der Essensgabe immer wieder den Kopf wegdrehen oder den Mund demonstrativ verschliessen. In diesen Fällen gilt es, genau herauszufinden, was der Grund dafür ist. So kann es beispielsweise sein, dass eine Zahnprothese Probleme bereitet oder Schluckstörungen vorhanden sind. Pathologische Ursachen müssen also ausgeschlossen werden können. Dies erfordert fundierte Abklärungen und viel Fingerspitzengefühl. Möglicherweise hat die Person aber im noch urteilsfähigen Zustand bereits geäussert, am Lebensende nichts mehr essen und trinken zu wollen. Oder der Wunsch ist in einer Patientenverfügung festgehalten.

Wie ist es für Pflegende und Pflegeinstitutionen, diesem Wunsch nachzukommen?

Es besteht eine grosse Unsicherheit, wenn es darum geht, Menschen beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zu begleiten. Unter anderem stellen sich immer wieder rechtliche Fragen. Zum Beispiel, wie man mit einer Person umgeht, die im Delir nach Essen und Trinken verlangt, obwohl sie im Vorfeld ausdrücklich gewünscht hat, darauf zu verzichten. Oder die Frage, ob man dieser Person ein Medikament geben darf gegen die Unruhe. Diese Fragen gilt es im Vorfeld zu klären. Ziel ist, dass sich Pflegende und Angehörige nicht im rechtlichen Graubereich bewegen müssen und in Gewissenskonflikte geraten.

Wie empfinden es Angehörige, wenn eine geliebte Person nichts mehr essen und trinken will?

Die Angehörigen durchlaufen in der Regel während des ganzen Prozesses ein Wechselbad der Gefühle, das in der Fachliteratur in die Kategorien «ablehnend», «schwankend» und «zustimmend» eingeteilt wird. Je früher jemand das Umfeld involviert und je nachvollziehbarer der Wunsch für die Angehörigen erscheint – etwa aufgrund des hohen Alters oder des Leidenszustands –, desto grösser ist die Akzeptanz. In der Regel übernehmen Angehörige sogar eine anwaltschaftliche Rolle. Sie möchten gewährleisten, dass der Wunsch der sterbewilligen Person umgesetzt wird. Es gibt aber auch solche, die nicht mit der Situation umgehen können und sich von Anfang an aus dem Prozess zurückziehen.

Wie fühlt sich der Prozess für die Sterbewilligen selbst an?

Je nach Person sehr unterschiedlich. Es ist aber kein einfacher Weg. In den ersten eins bis drei Tagen entsteht oft ein starkes Hungergefühl, zugleich ein zunehmendes Durstgefühl. Das Hungergefühl verschwindet nach striktem Verzicht auf Nahrung innerhalb von 24 bis 72 Stunden. Das Durstgefühl bleibt bis zum Schluss. Es lässt sich jedoch lindern durch eine regelmässige Mundpflege. Man muss aber beachten, dass eine Flüssigkeitszufuhr von mehr als 50 Millilitern am Tag den Sterbeprozess verzögert. Ein Eiswürfel zum Lutschen kann manchmal schon einen Einfluss haben. Ebenso ist es mit dem halben Glas Wasser, das benötigt wird, um eine Tablette zu schlucken. Nach rund 7 Tagen folgt eine Phase der zunehmenden Schläfrigkeit und des reduzierten Allgemeinzustands, die als angenehm beschrieben wird. Jedoch können auch in dieser Phase Verwirrungs- und Unruhezustände auftreten.

Wie gehen die Angehörigen damit um, wenn sie solche Komplikationen miterleben?

Bevor eine Person sich für den FVNF am Lebensende entscheidet, sollte unter Einbezug aller involvierten Personen eine ausführliche Beratung über mögliche Komplikationen stattfinden – am besten bereits beim Hausarzt. Wenn Angehörige wissen, wie sie helfen können, fällt ihnen der Umgang leichter. Beispielsweise kann das Vorlesen oder Erzählen einer Geschichte Unruhezustände mindern. Auch erinnere ich mich an einen Fall, als ein Mann im Zustand einer enormen Unruhe den Hund seiner Tochter streichelte und danach entspannt für einige Stunden schlafen konnte. Ohne Medikamente.

Wurde den Angehörigen in der ganzen Thematik bisher zu wenig Beachtung geschenkt?

Das ist ganz klar der Fall. Man muss sie noch viel mehr einbeziehen. Je später dies geschieht, desto herausfordernder wird es, die Angehörigen zu begleiten. Es gilt auch zu bedenken, dass die Begleitung nicht endet mit dem Tod der geliebten Person. Unsere Aufgabe ist es, den Angehörigen weiterführende Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Inwiefern konnten Sie die Erkenntnisse aus Ihrer Masterarbeit selbst nutzen oder mit anderen teilen?

Es haben mich bereits verschiedene Institutionen angefragt, meine Erkenntnisse zu präsentieren – zum Beispiel in einem Vortrag. Auch durfte ich zusammen mit der Studienleiterin des MAS Palliative Care einen Fachartikel publizieren. Ich stelle fest, dass der FVNF mehr und mehr zum Thema wird und man sich damit auseinandersetzen will. Für mich ist es sehr spannend, zur Sensibilisierung in diesem Bereich beizutragen und aus fachlicher Sicht Unterstützung zu leisten.

MAS Palliative Care

Zusammen mit den Fachleuten aus der Medizin, Psychologie, Seelsorge und weiteren Gesundheitsberufen bilden Pflegefachpersonen in der Palliative Care ein multiprofessionelles Team. Dieses Team verfolgt ein gemeinsames Ziel: Den Patientinnen und Patienten die letzte Lebensphase so lebenswert wie möglich zu gestalten. Ein erweitertes und vertieftes Fachwissen im Bereich der Palliative Care bildet die Grundlage für eine erfolgreiche interprofessionelle Zusammenarbeit, die personenzentriert agiert. Diese Aspekte werden im Studienprogramm (MAS) Palliative Care an der OST – Ostschweizer Fachhochschule aufgegriffen und vertieft.